Bild nicht mehr verfügbar.

SPÖ: Gute Spieler, aber kein Teamgeist. Und zum Teil haarsträubende Eigentore.

Foto: REUTERS/Lisi Niesner

Der Abgang von Christian Kern strategische Optionen für den Wiener Wahlkampf.

Illustrationen von Felix Grütsch

Illustration: Felix Grütsch

1. Christian Kern als Staatsmann

Juli 2017, ein Donnerstag. Ich bin erst seit wenigen Wochen im Team von Bundeskanzler Christian Kern, und es ist der Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal wirklich unter Druck sehe. Am Vortag hat der Verteidigungsminister laut "Kronen Zeitung" "Panzer an die Brennergrenze" geschickt. Jetzt ist Paolo Gentiloni bei Christian Kern am Telefon. Der damalige italienische Ministerpräsident ist eigentlich ein ruhiger und besonnener Mann, aber jetzt um 8.30 lässt er den Kanzler kaum zu Wort kommen. Gentiloni droht am Telefon mit massiven Konsequenzen, die Österreich schaden würden. Christian Kern, der mitten im Wahlkampf steht, weiß in dieser Minute, dass er die Wahl zwischen seinem persönlichen Erfolg (beharren und eskalieren) und Österreich (klein beigeben) hat. Er zögert keine Sekunde und lenkt ein. Ich spüre die unglaubliche Einsamkeit, in denen ein Kanzler in solchen Situationen Entscheidungen fällen muss. Und ich denke mir: Der Mann kann das.

2. Haltungsproblem

Die SPÖ hat kein Personal-, sie hat ein Haltungsproblem. Wenige Wochen später, im Kreisky-Zimmer des Kanzleramts. Es ist der achte Tag, nachdem Tal Silberstein in Israel in Untersuchungshaft genommen wurde. Im Kanzleramt sitzen alle wichtigen Entscheidungsträger der Sozialdemokratie. Die allgemeine Situation ist, vorsichtig gesagt, nicht gerade gut – die Umfragen und die mediale Stimmung sind gegen die SPÖ. Aber andererseits hat diese Partei eigentlich ein gutes Team. Ich zeichne am Flipchart ein Fußballfeld: CK ist unsere Spitze, links vorne Pamela Rendi-Wagner, rechts vorne Hans Peter Doskozil, in der linken Verteidigung Peter Kaiser, rechts Hans Niessl. Vorstopper Thomas Drozda. Das ist durchaus eine Aufstellung, mit der ein Trainer seine Freude haben kann.

Aber auch im Fußball gewinnt die Mannschaft nur, wenn alle Mitglieder des Teams zusammenspielen. Während wir im Zimmer sitzen, klappt dieses Zusammenspiel. Aber gleichzeitig sind die Spielermanager draußen schon aktiv. Die Büros und Sprecher sorgen bereits dafür, dass kein Vertrauen mehr entstehen kann. In dieser vielversprechenden Zusammensetzung sollten wir uns dann auch nie wieder sehen. Dass ich am Abend in der Online-Ausgabe einer Zeitung lese, was wir alles besprochen haben, das wundert mich dann schon gar nicht mehr.

3. Gravitationsgesetze der Politik

Der Chaosdienstag ist ein handwerkliches Desaster. Die Gravitationsgesetze der Politik lassen sich nicht aufheben. Was genau an diesem Dienstag, dem 18. September 2018, passiert ist, das wird wahrscheinlich niemand exakt rekonstruieren können. Es sind einfach zu viele Teilnehmer, die an zu vielen Schrauben gedreht haben. Ein paar Statisten wollten einmal Regisseur sein, und das ging auch, weil sich der Star viel zu lange in seiner Garderobe eingesperrt hat. Die Bühne blieb viel zu lange leer, und das nützten wiederum die Kollegen aus dem anderen Theater, um ein paar Gazprom-Stinkbomben rüberzuwerfen. Die verzogen sich zwar rasch, aber der Geruch blieb dennoch kleben.

Die SPÖ hat an diesem Tag versucht, die Gravitationsgesetze der Politik auszuhebeln. Aber wie das so ist mit Naturgesetzen: Wer sie nicht beherzigt, der fällt hart auf den Boden.

Darum noch einmal für alle, die in der Politik etwas werden wollen: Teile nie deine Emotionen und Befindlichkeiten, auch nicht mit den engsten Parteifreunden. Sondiere Allianzen. Schaffe die Tatsachen erst, wenn du dir absolut sicher bist, dass du genug Freunde hast. Baue eine Dramaturgie. Nimm potenzielle Angriffe vorweg oder nutze sie zur Steigerung deiner eigenen Relevanz. Und, ganz besonders wichtig: Verstecke dich nicht, auch wenn es unangenehm ist – denn wenn du die Bühne freigibst, dann nützt sie jemand anderer.

4. Europawahl

Der Tag der Europawahl kann bitter werden. Die grundsätzliche Idee war ja gut. Im Wissen, dass es unter Umständen nach der nächsten Nationalratswahl wieder eine blau-türkise Regierung geben könnte, ist die Idee "Wir können dafür Regierung in Land, Gemeinde und Europa" ziemlich clever. Für die Umsetzung müssen allerdings die oben beschriebenen ehernen Gesetze der Polit-Branche beachtet werden. Dass sie es nicht wurden, lässt die österreichische Sozialdemokratie schlecht dastehen. Die europäische tut dies allerdings auch – das zeigen die Wahlergebnisse der anderen sozialdemokratischen Parteien.

Ein zweiter Platz der vereinigten europäischen Sozialdemokratie SPE ist in weiter Ferne. Eine mögliche Allianz der Liberalen mit Emmanuel Macron- aber natürlich auch die vereinte extreme Rechte – könnte vor der Sozialdemokratie liegen.

Ein vierter Platz würde es dann auch verunmöglichen, im Spiel um die europäischen Spitzenposten mitzumischen. In Österreich ist ein Ergebnis unter 20 Prozent Zustimmung denkbar. Ein potenziell unwürdiger letzter Akt für einen guten Staatsmann. Wenn Christian Kern überhaupt Spitzenkandidat wird.

5. Wien

Alles ist Wien. Wien ist alles. Aber klar: Irgendjemand hat am vergangenen Dienstag getratscht. Irgendjemand hat etwas erfahren und es der Presse weitergegeben, und zwar so geschickt verkürzt, dass das geleakte Info-Häppchen maximalen Schaden angerichtet hat. Der Schaden für die Sozialdemokratie ist so groß, dass man sich eigentlich gar nicht zu fragen wagt, wem es innerparteilich nützen könnte, weil es niemandem nützt.

Aber dann interviewen die Morgennachrichten Michael Ludwig und bezeichnen ihn als "mächtigen Mann der SPÖ". Es muss nicht zwingend heißen, dass der Geheimnisverräter im Rathaus sitzt oder in den Büros der Wiener SPÖ in der Löwelstraße. Aber wenn irgendjemand mit SPÖ-Parteibuch vom letzten Chaostag des Christian Kern profitiert, dann ist es der Wiener Bürgermeister und Stadt-SPÖ-Chef Michael Ludwig.

Er ist noch kein halbes Jahr im Amt, und er kann sich bereits als starker Mann profilieren, der sich aussucht, wer unter ihm Bundesparteivorsitzender ist (Michael Häupl hat darauf immerhin fast sechs Jahre warten müssen, Viktor Klima wurde nicht von ihm, sondern noch von einem starken Bundeskanzler Franz Vranitzky ausgesucht). Dieses Macher-Image kann ihm Pluspunkte bringen.

Wiener Wahlkampf

Außerdem öffnet der Abgang von Christian Kern strategische Optionen für den Wiener Wahlkampf – und das ist am Ende das Einzige, worum es in den kommenden Jahren in Österreich geht. Zumindest für die SPÖ.

Aus der Sicht von Michael Ludwig kann er die Wiener Wahl nur gewinnen, wenn er sich als Gegenspieler der Bundesregierung inszenieren kann. Ludwig muss aus seiner Sicht der wichtigste Oppositionsführer sein, die Stimme gegen Schwarz-Blau. Christian Kern, der dann vielleicht sogar als starker Parteichef einen Anti-Regierungs-Europawahlkampf führt, würde da nur stören. Zumindest bis zum Wahltag wäre er medial weiterhin der Gegen-Kurz. Und wie viel Platz bliebe dann noch für Ludwig?

"Wien braucht Ruhe, wenn Wien was braucht, dann sind das keine Turbulenzen." Fast mantraartig haben die Strategen aus dem Team Ludwig am Tag nach dem Kern-Abgang diese Floskel wiederholt. Das mag vielleicht ein gutes Zitat für die Zeitung sein, aber mit der Realität hat das nichts zu tun. Rein machiavellistisch ist Ruhe nämlich Gift für Michael Ludwig.

Kein Kapitän kann sich in einer ruhigen See profilieren. Sein Kalkül: Nur wenn wirklich viele Wellen über das Schiff hereinbrechen, kann ich mich als Steuermann beweisen. Was das für das Schiff und vor allem für die Passagiere bedeutet (vor allem für die Seekranken), das ist dabei allerdings zweitrangig. (Johannes Vetter, 21.9.2018)