Ungarns Premier Viktor Orbán führte sein Land in eine Krise mit der EU.

Foto: AFP_FREDERICK FLORIN

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Freude war groß bei der Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini, die den kritischen Bericht zu Ungarn verfasst hatte.

Foto: Reuters/VINCENT KESSLER

Straßburg – In Europaparlament in Straßburg hat eine klare Mehrheit für die Einleitung eines Strafverfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn gestimmt. Von den 751 Abgeordneten stimmten 448 dafür und 197 dagegen, 48 enthielten sich. Damit war die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht.

Grundlage der Abstimmung über das Rechtsstaatsverfahren war ein Bericht der Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini. Dieser stellt eine "systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn" fest. Das Verfahren könnte im äußersten Fall dazu führen, dass Ungarn Stimmrechte im Ministerrat verliert.

Entsprechend groß war die Freude nach der Abstimmung bei der Abgeordneten.

Ungarn kündigte an, die Entscheidung des EU-Parlaments anfechten zu wollen. Man suche momentan nach Möglichkeiten, sagte Ungarns Außenminister Peter Szijjarto am Mittwochnachmittag. Die Entscheidung sei eine "kleinliche Racheaktion" Migrationsbefürwortern gegen Ungarn gewesen. Die Entscheidung sei durch Betrug zustandegekommen und widerspreche den Europäischen Verträgen. Bei der Auszählung seien Enthaltungen nicht mitgerechnet worden, was das Ergebnis verfälsche. Seine Regierung prüfe, dagegen zu klagen.

Letzte Juncker-Rede

Vor der Abstimmung hatte sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner letzten Rede an das Parlament hinter die Eröffnung von Verfahren gegen Mitgliedsländer bei Verstößen gegen die Prinzipien des Rechtsstaats gestellt – wobei er es vermied, Polen, wo schon ein solches Verfahren läuft, oder eben Ungarn beim Namen zu nennen. "Artikel 7 muss dort, wo der Rechtsstaat in Gefahr ist, Anwendung finden", sagte Juncker. "Die Kommission stellt sich entschieden allen Angriffen auf die Rechtsstaatlichkeit entgegen. Wir sind weiterhin besorgt darüber, welche Richtungen die Debatte in einigen Mitgliedstaaten nimmt."

Erklärvideo: Was bedeutet der Artikel 7?
DER STANDARD

Forderungen an EU-Ratsvorsitz Österreich zu Migration

An weiteren Themen mangelte es nicht, als Juncker am Mittwochvormittag vor das Plenum trat: etwa der Debatte über den Umgang und die Strategie zur Migration in Europa oder dem britischen EU-Austritt. Die diesjährige Rede, die mitten im österreichischen EU-Vorsitz stattfand, geht der EU-Wahlen 2019 voraus.

Juncker forderte den österreichischen EU-Ratsvorsitz dazu auf, zukunftsfähige Lösungen in der Migrationspolitik auszuarbeiten. Die EU könne nicht über jedes ankommende Schiff streiten. "Ad-hoc-Lösungen reichen nicht aus." Er sprach den Teil der Rede auf Deutsch, während er die restliche Rede auf Französisch hielt.

Die EU-Kommission wolle mit ihrem aktuellen Vorschlag, die europäische Grenz- und Küstenwache bis 2020 auf 10.000 Mann aufzustocken, die Solidarität erhöhen. Zudem soll die europäische Asylagentur ausgebaut werden. Juncker forderte auch legale Einwanderungsmöglichkeiten, die EU-Staaten sollten die diesbezüglichen Vorschläge der Kommission unterstützen. "Wir brauchen qualifizierte Migranten." Auch mit Afrika müsse die EU eine echte Partnerschaft eingehen.

Juncker zum Brexit

Zum Brexit sagte Juncker, dass die EU dem Vorschlag der britischen Premierministerin Theresa May zur Errichtung einer Freihandelszone nach dem Brexit offen gegenüberstehe. Die EU sei für einen geordneten Austritt. In den Verhandlungen verfolge die Kommission aber drei Grundsätze. Dazu gehöre, dass ein Land außerhalb der EU nicht die gleichen Rechte haben könne wie ein Mitgliedsstaat. Zudem seien zur Vermeidung einer "harten" Grenze zwischen Nordirland und Irland kreative Lösungen nötig. Drittens werde Großbritannien immer ein besonderer Nachbar sein, auch politisch und in Sicherheitsfragen.

Trump die Stirn bieten, mehr Aufmerksamkeit für Syrien

Juncker verlangte auch vehement eine Abschaffung der Vetomöglichkeiten in der europäischen Außen- und Steuerpolitik. "Wir brauchen eine europäische Diplomatie." Auch der Euro müsse weltweit eine stärkere Bedeutung bekommen.

Europa könne sich nicht mehr auf bisherige Bündnisse verlassen, warnte Juncker in Hinblick auf die US-Außenpolitik unter Donald Trump. Deshalb habe er auch die europäische Verteidigungsunion vorangebracht. "Wir wollen keine Militarisierung der EU, wir wollen aber mehr Verantwortung übernehmen und unabhängiger werden."

Juncker forderte mehr Aufmerksamkeit für den Krieg in Syrien, der zeige, wie die internationale Ordnung durcheinandergeraten sei. Die EU dürfe angesichts der humanitären Katastrophe in der syrischen Provinz Idlib nicht schweigen. Sie müsse auch endgültig definieren, wie sie zur Aufnahme der Westbalkanstaaten stehe.

Abschaffung der Zeitumstellung

Juncker bekräftigte, dass die EU-Kommission die Zeitumstellung abschaffen wolle. "Die Mitgliedsstaaten sollten selbst entscheiden, ob ihre Bürger in der Sommer- oder in der Winterzeit leben sollen", sagte er. Er erwarte jedoch binnenmarktkonforme Lösungen, "die Zeit drängt".

Die Grundsatzrede ist viel mehr als ein symbolischer Akt. Sie ist im Vertrag von Lissabon festgeschrieben und bildet den Auftakt zum Dialog zwischen Parlament, EU-Rat und Kommission zur Vorbereitung des kommenden Arbeitsprogramms. (APA, red, 11.9.2018)