Übersicht zu den Religionsgruppen an Wiener Volksschulen.

Grafik: APA

Derzeit sind die Muslime die zweitgrößte religiöse Gruppe an den Wiener Volksschulen.

Foto: Heribert Corn

Wien – Der vielleicht schlimmste, hoffnungsloseste Satz in Susanne Wiesingers Buch Kulturkampf im Klassenzimmer. Wie der Islam die Schulen verändert steht auf Seite 29. Dort schreibt die Lehrerin, die seit 30 Jahren in Wien unterrichtet, aktuell an einer NMS in Favoriten: "Wir sind ohnmächtig. Und oft denke ich: Die haben gewonnen, und wir haben verloren. In Wirklichkeit haben aber die Kinder verloren."

Verloren geben will die frühere sozialdemokratische Lehrergewerkschafterin diese Kinder aber nicht. Schon im März hatte sie im STANDARD-Gespräch davor gewarnt, das Thema aus parteipolitischen Gründen nicht anzufassen: "Ich halte die parteienübergreifende Geiselhaft der Schulpolitik durch die Parteipolitik nicht mehr aus."

Ihre Schilderungen über muslimische Jugendliche, die bestimmte Lehrinhalte als harām (laut Scharia verboten) verweigern, Biologiebücher daher nicht mit nach Hause nehmen und den Sexualkundeunterricht zum "Albtraum" machen oder einem muslimischen Mädchen drohen, ihr Sommerkleid zu zerschneiden, "weil sie sich in ihren Augen wie eine Christin gekleidet habe", kennen auch andere Schulexperten.

Susanne Wiesinger: Geeignete Klassenlektüre zu finden wird von Jahr zu Jahr eine größere Herausforderung. Es ist ein Spagat zwischen Sprachproblem und Scharia. Dazu kommt der "Islam-Filter": Alle inhaltlichen Passagen, die aus Sicht meiner muslimischen Schüler haram, nach der Scharia verboten sind, dürfen nicht gelesen werden.

Laut Pflichtschulinspektorin Elisabeth Repolusk gibt es etwa in Wien-Favoriten durchaus Schulen, die mit Auswirkungen des radikalen Islam auf den Unterricht "sehr viel zu tun haben und wo diese Parallelwelten für manche Schüler wirklich Realität sind", sagte sie zur APA. "Kulturkampf" sehe sie aber keinen: "Wir haben diese Probleme, keine Frage. Aber wir sind schon seit Jahren an diesen Themen dran." Es gebe Fortbildungen wie Deradikalisierungsseminare und in der Integration extrem engagierte Lehrerinnen und Lehrer.

Der Vorsitzende des Sozialdemokratischen LehrerInnenvereins, Thomas Bulant, spricht von "Einzelevidenzen" seiner Ex-Fraktionskollegin. Er höre vor allem Klagen von Lehrerinnen, die wegen ihres Geschlechts nicht als Autorität anerkannt bzw. denen das Begrüßungsritual verweigert werde. Er baue auf die von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) angekündigte Studie zu Integrationsproblemen an den Schulen, um zu einem Gesamtbild zu kommen.

Susanne Wiesinger: Die Schule ist Austragungsort für kulturelle, religiöse, nationale Streitereien. Immer öfter werden diese gewalttätig ausgefochten. Muslime machen die größten Probleme. Bei uns sind das Türken, Tschetschenen, Afghanen. Viele tragen ihr extremes Macho-Gehabe vor sich her, provozieren andere, wo und wann es nur geht.

Diese soll der Integrationsexperte und Politikberater Kenan Güngör durchführen. Im STANDARD-Gespräch bestätigt er Wiesingers Beobachtungen, die er auch deshalb für beachtenswert hält, "weil sie nicht aus einer fremdenfeindlichen, gehässigen Ecke kommen. Auch ich höre das immer wieder von belasteten Schulstandorten mit einem höheren Anteil an muslimischen Schülerinnen und Schülern, etwa dass Musikunterricht verweigert wird."

"Schutzpatron für die Muslime"

Er beobachtet eine grundlegende Veränderung: "Es gab in den letzten Jahren einen Trend zur Radikalisierung, der zum Glück sehr abgeflaut ist. Jetzt haben wir unter anderem eine stärkere Erdoğan-Begeisterung. Das macht zum Beispiel Geschichtsunterricht oder Politische Bildung oft sehr schwierig." Der autokratische Präsident der Türkei stilisiere sich ja quasi "zum einzigen Schutzpatron für die Muslime" und wirke nicht nur auf junge türkische Muslime attraktiv: "Diese Schüler empfinden sich plötzlich als definitionsmächtige Gruppe, die mit Selbstbewusstsein auftritt, und die Lehrerinnen und Lehrer stehen dann oft an, weil sie argumentativ unterlegen sind und zu wenig wissen über den Islam, den Nahen Osten oder die Türkei."

Zu wenig Wissen gibt es auch über das Ausmaß bzw. die konkrete Ausformung der geschilderten Probleme, warnt der Soziologe vor "Stückwerkdiskussionen", die sich punktuell mal auf das Kopftuchverbot, mal auf Deutschkurse etc. konzentrieren, statt einmal "das ganze Bild anzuschauen. Es gibt offensichtlich Reibungspunkte, aber wir wissen nicht, wie viel davon Projektion, Überzeichnung und was Realität ist."

Das soll die von Faßmann beauftragte Studie leisten. Österreichweit sollen online die Direktorinnen und Direktoren aller Regelschulen (von Volks- über Berufsschulen bis zu höheren Schulen mit Matura) befragt werden, "welche Herausforderungen sie durch die religiös-politischen Entwicklungen sehen", erklärt Güngör. "Wir müssen uns die Frage stellen, wie eine säkulare Schule in einer Migrationsgesellschaft mit erhöhter Religiosität umgehen kann und soll." Diese Erhebung würde sichtbar machen, "wo das überhaupt ein Thema ist, in welchen Schultypen oder welche Altersgruppe besonders auffällt".

Susanne Wiesinger: Sehr viele muslimische Kinder sind innerlich zerrissen. Einerseits wird ihnen von der Community eingeredet, wie überlegen und besonders sie aufgrund ihres Glaubens sind, andererseits werden sie von uns mit ihrem schulischen Misserfolg konfrontiert. Natürlich sorgt das für innere Unruhe, für gewaltige Spannungen.

Güngör rät auch zu einer kritischen Selbstbefragung: "Wie können etwa muslimische Prediger, die diese Kinder einmal in der Woche im Moscheeverein hören, einen größeren Einfluss auf sie haben als die Schule, wo sie fünf Tage sind?" Die Antwort ist prekär: "Offensichtlich ist die soziale und gleichheitsorientierte Bindungs- und Orientierungskraft unseres Schulsystems für einen Teil der muslimischen Kinder nicht wirksam genug. Da müssen wir auch uns kritisch fragen, warum das so ist und wie man das besser machen könnte." (Lisa Nimmervoll, 10.9.2018)