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Begleitet von Protesten wurde soeben eine Ausstellung zu Balthus in Basel eröffnet. Dem Gemälde "Thérèse, träumend" wird "Sexualisierung von Kindern" vorgeworfen.

Foto: Reuters

Leben wir in einer neuen Verbotskultur? Zumindest wenn man Raucher, Burkaträgerin oder U-Bahn-Jausner ist, fällt die Antwort ziemlich eindeutig aus. Auch in der Kunst diagnostiziert Hanno Rauterberg eine neue Ära der Zensur. In seinem Essayband Wie frei ist die Kunst? stellt er die These eines neuen Kulturkampfs auf. Durch digitale Medien entstünden neue Mobdynamiken, die Meinungskriege auslösen. Zur Beschwichtigung würden Institutionen heutzutage allzu ängstlich reagieren und schneller zu Verboten neigen.

Die These ist einleuchtend, zumal man sich an einige im Zuge der #MeToo-Bewegung exponiert verhandelte Fälle noch gut erinnert. Mit großer Aufregung wurde etwa das Gemälde Thérèse, träumend (1938) von Balthus diskutiert, von dem 10.000 empörte Bürgerinnen und Bürger in einer Onlinepetition gefordert hatten, es solle aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Modern Art entfernt werden, weil es Kinder sexualisiere und Voyeurismus evoziere. Einer soeben in der Fondation Beyeler in Basel eröffneten Balthus-Ausstellung gingen ebenfalls heftige Proteste voraus.

Bigotte Aktion

In einer geradezu bigotten Aktion wurde der der sexuellen Belästigung beschuldigte Schauspieler Kevin Spacey aus Ridley Scotts Film Alles Geld der Welt gelöscht. Das Gedicht Avenidas von Eugen Gomringer wird von der Fassade einer Schule in Deutschland entfernt, da die Gedichtzeile "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer" von Studierenden als sexistisch empfunden wurde.

Hanno Rauterberg, Kunstkritiker der deutschen Wochenzeitung Die Zeit, liefert noch viele weitere Beispiele. Darunter auch der Fall der US-Künstlerin Dana Schutz, die mit dem Gemälde Open Casket, das den gewaltsamen Tod des jungen Schwarzen Emmett Till 1955 zum Thema hat, bei der schwarzen Community auf heftige Kritik stieß. Der Vorwurf: Sie, eine Weiße, würde sich dieser Geschichte bemächtigen, sie für ihre Zwecke ausbeuten.

Kulturelle Aneignung machte man auch einer Theaterproduktion des kanadischen Regisseurs Robert Lepage zum Vorwurf. Weil er in dem Stück Kanata über die indianische Urbevölkerung keine indigenen Schauspieler besetzte, gingen die Wogen hoch. Es wurde schließlich abgesetzt.

Rauterbergs Zusammenschau (noch ohne Lepage) belegt aber weniger die Existenz eines Kulturkampfes als vielmehr einen hohen gesellschaftlichen Irritationsgrad, der weniger eine Debatte über Kunst und ihr Verbot abbildet, sondern mehr den unsicheren Umgang mit den Meinungsschlachtfeldern der Social-Media-Welt. In exemplarischen fünf Kapiteln macht er gut nachvollziehbar, warum sich der meist auf identifikatorischen Blicken bzw. Perspektiven beruhende Erregtheitszustand gegenüber Kunst so potenziert. Warum er so schnell in Verbotsgelüste kippt: meist aus Affektgründen. Ob das aber gleich eine "Liberalismuskrise" ist, wie der Untertitel suggeriert?

Universalistischer Freiraum

Ist es nicht liberal, wenn über Kunst diskutiert wird? Selbst dann, wenn sich auch nur eine Minderheit mit ihren Argumenten zu Wort meldet? Kunst ist ja gerade deshalb so wichtig, weil es um Deutungshoheit geht. Und es ist kein Zufall, dass es hier besonders Frauen (Gomringer), Schwarze (Schutz) und Indigene (Lepage) sind, die bestehende Hegemonien in Frage stellen.

Die Vorstellung von Kunst als "universalistischer Freiraum", wie Rauterberg es erträumt, "in dem alles von allen gedacht und erprobt werden darf", wäre zwar schön, entspricht aber nicht der Realität. Wer gesellschaftlich benachteiligt wird, ist auch in der Kunst falsch oder unterrepräsentiert.

Die berechtigte Frage aber ist, warum Filmproduktionsfirmen und Museen so eilfertig mit Zensuren und Absagen reagieren? Andererseits sollte man auch die Kirche im Dorf lassen und klar sehen, dass es sich in den meisten der von der Affekt- und Partizipationskultur hochgespülten Fällen nur um Rauchfeuer handelt.

Auch Gomringers Gedicht, das bald auf eine Edelstahltafel im Sockelbereich der Fassade schrumpfen soll, könnte in Bälde schon die Fassade des neuen PEN-Zentrums in Darmstadt zieren – so die Pläne des Präsidiums. Auch andere Fassaden gewähren ihm Obdach. (Margarete Affenzeller, 4.9.2018)