Niko konzentriert sich, fokussiert das Gebirge am Horizont und stemmt seinen kleinen Körper schließlich mit aller Kraft in die Pedale. Nach wenigen Sekunden schon ist der Biker mit dem roten Hoody oben auf dem Plateau und rast mit vollem Karacho auf den nächsten Hügel zu. Nochmal rauf, nochmal runter, Vollbremsung. "Voll cool hier", sagt der 13-Jährige, der den Platz vor wenigen Tagen erst entdeckt hat und seitdem mit seinen beiden Kumpels Andreas und Tuomas regelmäßig beradelt. "Es ist nicht leicht. Du musst echt aufpassen, dass du nicht zu sehr nach rechts abkommst, denn dann wird es echt steil, und dann fängst du an abzurutschen. Aber trotzdem, voll cool hier."

Der Glaspalastplatz in Helsinki, die Dachlandschaft des neuen Amos-Rex-Museums.
Foto: Mika Huisman

Der voll coole Ort, von dem Niko spricht, ist der neugestaltete Lasipalatsinaukio, der sogenannte Glaspalastplatz, der dem soeben fertiggestellten Amos-Rex-Museums zugleich als Dachlandschaft dient. Vergangenen Montag wurde das 6000 Quadratmeter große, unterirdische Kunstmuseum, das zuvor in der nahegelegenen Yrjönkatu beheimatet war, vor Presse und Publikum feierlich eröffnet. "Ich freue mich, von nun an ein Museum zu leiten, das in jeder Hinsicht Teil der Stadt ist", sagte Direktor Kai Kartio, gelbe Socken und Nietenschuhe, bei der Eröffnung. "Unten in den Innenräumen wird zeitgenössische Kunst zu sehen sein, und oben im Außenraum werden die Menschen urbane Alltagskultur zu spüren bekommen."

Wechselhafte Geschichte

Der außergewöhnliche Bauplatz im Herzen Helsinkis blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Einst stand hier, nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt, die 1918 im Finnischen Bürgerkrieg zerstörte Militärkaserne. 1936 wurde auf dem Areal der sogenannte Glaspalast errichtet – ein Freizeitkomplex mit Café, Eissalon, Geschäften, prächtigem Art-Déco-Kinosaal und sogar einem eigenen Heizkraftwerk samt Schornstein. Das luftig-leichte Gebäude, das von drei jungen Architekturstudenten entworfen wurde, war ursprünglich als Provisorium gedacht und hätte nach den Olympischen Sommerspielen 1940, die wiederum dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, abgetragen werden sollen.

Doch es kam anders. Die Anlage blieb erhalten und wurde von 1945 bis in die frühen Neunzigerjahre als städtischer Busbahnhof genutzt. 2009 erstellte das finnische Architekturbüro JKMM für den inzwischen tot gewordenen Platz eine städtebauliche Studie und untersuchte verschiedene Nutzungen für einen unterirdischen Bau. Die Varianten reichten vom Museum bis zur Stadtbibliothek, die nun neben dem Kiasma-Museum errichtet wird und Ende des Jahres eröffnet werden soll. Heute steht der wunderschöne Lasipalatsi, der mit seinem verspielten Kamin, seinen roten Uhren und seinen geschwungenen Neonschriftzügen an unser aller Kindheitstage erinnert, unter Denkmalschutz.

Oberirdirsch spürbar

"Dieser Platz ist einer der wichtigsten öffentlichen Freiräume in ganz Finnland", sagt Asmo Jaaksi, Partner im zuständigen Architekturbüro JKMM, "und ehrlich gesagt wussten wir auch nicht so recht, ob wir uns mit der unsichtbaren Positionierung unter der Erde begnügen wollen oder nicht. Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, das Museum auch oberirdisch spürbar zu machen." Daher also die fünf mit Betonsteinen gepflasterten Rüssel, die als organische Skulpturen den Platz durchstoßen und das Licht in die darunterliegenden Museumsräume einsaugen.

Die Böden und Wände sind in gleißendes Weiß gehüllt. An den Decken schweben weiße, perforierte Akustikteller.
Foto: Tuomas Uusheimo

Blöd nur, dass ausgerechnet bei der Eröffnungsausstellung, einer imposanten und emotional sehr bewegenden Lichtinstallationsorgie des japanischen Künstlerkollektivs Teamlab, die charakteristischen Nozzles verdunkelt und die Räume in Black Boxes umgewandelt werden mussten. Ob das wohl ein gutes Omen ist? Bei vier der schräg nach oben ragenden Fensterrüssel starren die Menschen, sobald sie die steile Höhe erklommen und sich mit allerletzter Kraft bis zur Glaskante hochgezogen haben, auf eine schwarze Folie. Nur bei einem der Lichtschornsteine, jenem über dem Garderobenfoyer, können sie einen Blick ins Innere erhaschen.

Große Magritte-Ausstellung

Die Böden und Wände sind in gleißendes Weiß gehüllt. An den geschwungenen Decken scheinen perforierte, mit weißem Textil bespannte Akustikteller zu schweben. Die Ausstellungsräume und Korridore wiederum sind mit schwarzlasierten Kieferleisten und ebenso geschwärzten, hoch belastbaren Hirnhölzern ausgekleidet. Im Frühjahr 2019 soll eine große Ausstellung über René Magritte starten. Spätestens dann wird man wissen, ob die Räumlichkeiten auch als Bühne für klassische Kunstformate taugen. Wie sagte doch Magritte? "Ich bemühe mich, das Vertraute ins Fremdartige zurückzuversetzen."

Doch der wahre Schatz dieses 50 Millionen Euro teuren Hauses – die Errichtung wurde zur Gänze privat finanziert – liegt ohnehin nicht unten in den Hallen, sondern oben auf dem Dach. Während unten noch Lohivoileipiä, Lachsbrötchen, serviert werden, nehmen oben die Finnen den Platz bereits in Besitz. Die Kids, die Gothics, die Halbstarken, die Vollverliebten und die posierenden Selfie-Bloggerinnen. Sie erklimmen die bis zu fünf Meter hohen Rüssel, die weder abgesperrt noch mit Geboten und Verboten ausgeschildert sind, wie Wanderer die Gipfel stürmen. Der Begriff der Haftung scheint im finnischen Baugesetz keine Rolle zu spielen.

Keine Warnschilder

"Finnland ist ein Land mit Wasser, Wald und Millionen von Felsen in der Landschaft", erklärt Freja Ståhlberg-Aalto, Projektleiterin bei JKMM Architects. "Da finden Sie auch keine Warn- und Hinweisschilder, die einen darauf aufmerksam machen, aufzupassen. Warum also hier in der Stadt? Wir gehen davon aus, dass die Menschen imstande sind, das Risiko einzuschätzen und sich ihrer eigenen körperlichen Fähigkeiten bewusst zu sein. Das ist die Mindestvoraussetzung, um sich durch das Leben zu bewegen."

Die ungewöhnlich liberale Herangehensweise erfolgte im Einvernehmen zwischen Museum, Architekturbüro und Stadtverwaltung. Und das macht neidisch. Vor allem aus österreichischer und mitteleuropäischer Sicht, wo man jede Form der Eigenverantwortung längst niedergelegt hat und vom zunehmenden Haftungswahnsinn plattgerollt wird. Vielleicht ist das Amos Rex ja ein Anlass, urbane Lebenskultur neu zu definieren. Es ist dringend an der Zeit. (Wojciech Czaja aus Helsinki, Album, 3.9.2018)