Hippie-Ikone Janis Joplin: 1968, das war die Welt der alternativen Lebensformen, der freien Liebe.

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Im September 1968 hob Frankreich seine Devisenkontrolle auf, die die Regierung in der Mai-Krise angeordnet hatte. Nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen am 22. August 1968 flüchteten Menschen aus der damaligen CSSR nach Österreich (20.000), Deutschland (5000), der Schweiz (4000) und Italien (1500). An den Grenzen Jugoslawiens ordnete Tito eine Teilmobilmachung an.

Am 12. September zogen sich die sowjetischen Truppen aus Prag, Brünn und Bratislava zurück, während die neue Regierung bürgerliche Rechte außer Kraft setzte. Wegen der neuen Mode der Miniröcke explodierte der Markt für Feinstrumpfhosen. Auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS standen sich Befürworter und Gegner der sowjetischen Invasion in der CSSR unversöhnlich gegenüber. Die weiblichen Delegierten übten zudem scharfe Kritik an dem patriarchalen Gebaren ihrer Genossen.

Nicht an alle Ereignisse kann ich mich dabei erinnern. Verdrängt habe ich zum Beispiel, dass damals ein Teil des 'antiautoritären' SDS den post-stalinistischen Coup gegen den Reformsozialismus in Prag gebilligt hat. Der weibliche Protest war wiederum ein Signal in die Zukunft.

Wohl um dieselbe Zeit, nach den Ferien, traf sich in einer südbayerischen Stadt eine Runde junger Menschen, Studenten, Schüler und einige wenige Arbeitende, um den Anschluss an die aufregenden Zeiten zu finden. Die Stadt war nicht allzu weit von der Grenze zu Österreich entfernt, weshalb die jugendlichen Revolteure die neueste aufregende Pop-Musik nicht nur im Club des Bayerischen Rundfunks sondern auch in der legendären Music-Box des ORF und darüber hinaus auch auf der Kurzwelle der BBC inhalieren konnte.

Bewusstseinserweiterung üben

Die Abende in einem Beisl namens "Engelkeller" verliefen abwechslungsreich. Brachten die einen die Bände der legendären MEW-Ausgabe, voran das Kapital zum Verkauf mit, so priesen die anderen die neueste Lieferung des besten Haschisch aller Zeiten. Zwei überaus verschieden Art und Weisen, Bewusstseinserweiterung – ein Lieblingswort der Zeit – zu üben. Man diskutierte über LSD und Sex, über Aurobindo und Mao oder über die über die Notwendigkeit, eine kommunistische Partei zu gründen.

Binnen zweier Jahre hatte sich die muntere Runde, die an den aufregenden Ereignissen in Berlin und München teilhaben wollte, in viele Grüppchen gespalten, in Kommunarden, MLer, Trotzkisten und Moskau-treue Kommunisten. Wir verteilten Wilhelm Reichs Schrift Der sexuelle Kampf der Jugend vor dem Mädchengymnasium, der Schulsprecher forderte die Einführung des Rätesystems am Gymnasium und andere überlegten, welches politische Unrecht dieser Welt wir zum Anlass unserer ersten Demonstration wählen sollten. Nachdem das Thema Vietcong demonstrationspolitisch abgehakt war, entschieden wir uns für Biafra.

Maoistische Devotionalienhandlung

Noch heute verstört mich der radikale Umschlag von libertärem Aufbegehren in einen unduldsamen und sektiererischen Autoritarismus. Unvergessen ist der Besuch in einem kleinen Allgäuer Bauernhaus, in das uns zwei rustikale Menschen, Vater und Sohn, einluden. Stolz zeigten sie uns ihre maoistische Devotionalienhandlung, Bilder, Schriften und Wimpel, Schriften von Marx, Engels, Lenin, Schallplatten mit der chinesischen Version der Internationale und rote kleine Bücher von Mao Tse Tung. Nicht zu vergessen die Schriften Stalins, der – so der Tenor dieser Erben von 68 – ganz zu Unrecht von den "Revisionisten" in Moskau und Ostberlin verleumdet werde.

Das wahre sozialistische Paradies befand sich in Albanien und der Volksrepublik China. In Albanien, so erzählte ein maoistischer Medizinstudent, würden im Augenblick die Krankenhäuser geschlossen. Um triumphalistisch hinzufügen: "Im Sozialismus wird niemand krank." Manch einer spielte den harten, kommunistische Parteiführer, dem eigentlich nur noch Masse und Macht fehlten. Einige tauschten den Studienplatz mit der Werkbank, um das Proletariat aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken.

Komplexe Logik von 1968

Die komplexe und gegenläufige Logik von 1968 ist bis heute nicht hinreichend erfasst. Zunächst einmal handelte es sich dabei um mindestens zwei gegenläufige 'Revolutionen'. Die eine war eine Jugendrevolte, die ganz offenkundig von dem getragen war, was Sigmund Freud anno 1930 als "Unbehagen in der Kultur" beschrieben hatte – ein Prozess, der sich ohne Zentrum und Initiative stattfand und an bestimmte Traditionen der Jahrhundertwende – Jugendbewegung – anknüpfte.

Das war die Welt von Woodstock und Monterey, der alternativen Lebensformen (von Nitsch bis Rudolf Steiner), der freien Liebe, die durch die Antibabypille eine wesentliche materielle Grundlage bekam. In ihrem Zentrum stand das Subjekt, das sich radikal selbst verändern wollte und sich wie Münchhausen mit dem eigenen Zopf aus dem Sumpf einer falschen Lebenskultur ziehen wollte: Make love not war.

In krausem Missverständnis sahen manche in der chinesischen Kulturrevolution, einem der größten Verbrechen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Spiegelbild der eigenen Bestrebungen. Heute lässt sich ohne Risiko behaupten, dass es sich im Sinne von Georg Simmel um eine gewaltige, systemkonforme kulturelle Veränderung handelt, deren Wirkung bis heute nachhallt und die der kapitalistischen Gesellschaft einen neuen Lebensstil und uns, ungeachtet von Sehnsüchten nach radikaler Gemeinsamkeit, einen individualistischen Konformismus beschert hat.

Revolutionäre Umwälzungen

Die andere Revolution war politisch-dogmatisch und bezog sich auf 1789, 1917 und auf die revolutionären Umwälzungen in China, Kuba und Vietnam. Ihre Protagonisten spielten politische Revolution und befürworteten im Gegensatz zu den "Hippies" und zum Pazifismus der Ostermärsche "Sieg im Volkskrieg, Klassenkampf im eigenen Land". Mit Marx ließe sie sich als unfreiwillige historische Parodie begreifen. Man trug die Masken der Vergangenheit und der Ferne. Was anno 1930 Tragödie war, mutierte zur Farce, zum rhetorischen Spiel, bei dem man als strammer MLer dem trotzkistischen Widersacher einen Eispickel vor die Wohnungstüre legte.

Dass diese Revolution mangels fehlender Massenzustimmung nicht stattgefunden hat, ist bekannt. Folgenlos war sie nicht. Was sie gebar, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, war eine neue Form des kollektiven Terrors, der dem heutigen islamistischen Terrorismus vorangegangen ist: Rote Brigaden, ETA, IRA und natürlich auch die RAF, die logistisch mit radikalen Palästinensergruppen kooperierte, verstanden sich als revolutionäre Gruppen, die nach chinesischem oder vietnamesischen Vorbild den Volkskrieg in die Metropolen tragen und durch ihre gewalttätigen Aktionen und die einkalkulierten harten Gegenreaktionen ein revolutionäres Fanal setzen wollten.

Es gibt aber noch eine ganz andere unbeabsichtigte Folge von 1968, für sie liefert Österreich, das Land, in dem das revolutionäre Pendel recht zahm ausschlug, ein anschauliches Beispiel. Die neuen Konstellationen in vielen Ländern Westeuropas brachte die von den 68ern so verachtete demokratische Linke, Sozialdemokraten und Eurokommunisten, die die Arbeiterbewegung endgültig im Zentrum der Gesellschaft und Europas verankerten, historisch in die Offensive.

Gegner der liberalen Demokratie

Unser Verhältnis zu den Umwälzungen vor einem halben Jahrhundert ist merkwürdig nah und fern. Blickt man auf die programmatischen Manifestationen von damals, so sind sie von der heutigen politischen Semantik meilenweit entfernt. Die politischen 68er waren Gegner der liberalen Demokratie, sie propagierten Gewalt ("Macht kaputt, was uns kaputt macht") und autoritäre Modelle. Für Menschenrechte hatten sie ebenso wenig etwas übrig wie für ökologische Probleme. Der Beitrag der 68er zum Feminismus ist eher unfreiwillig, ließen sich doch die Frauen den Machismus ihrer berufsrevolutionären Heldenmänner nicht länger gefallen. Es war übrigens die unvorhergesehene grüne Bewegung, die maßgeblich zur Transformation und zur Entschärfung der politischen Diskurse von 1968 beigetragen hat und aus dogmatischen MLern plötzlich Anhänger von Menschrechten, Ökologie und Minderheiten machten.

1968 hat keinen bleibenden Beitrag im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Marxschen Theorie geleistet, der an das theoretische Niveau Gramscis, Blochs, Korschs oder des jungen Lukács heranreichen würde. Bleibend sind allein jene Theorien, die den klassischen Marxismus revidierten, etwa die Kritische Theorie oder die Cultural Studies in Großbritannien. 1968 bedeutete das letzte Aufflackern des politischen Marxismus. Auch wenn die letzte globale Wirtschaftskrise heute eine bescheidene Renaissance marxistischen Denkens in Gang setzt, ist deren beschränkte Reichweite absehbar. Manche Denkfiguren von Marx sind in unsere politischen Diskurse eingegangen, so etwa die 'materialistische' Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher und politischer Veränderungen.

Kein bleibender Beitrag

Dieser Materialismus erklärt auch, warum der klassische Marxismus tot ist. Das Ende des Industriezeitalters hat dem Marxismus, von allen theoretischen Fehlleistungen wie der Werttheorie, der Hegelschen Dialektik, dem messianischen Glauben an das Proletariat und dem starren Basis-Überbau-Schema einmal ganz abgesehen, den Boden entzogen.

Wer mit Gewinn Marx lesen möchte, der sollte seine historischen Analysen studieren, die sichvom engen theoretischen Korsett befreit haben. Politisch ist mit Marx und seinen Epigonen von 1968 kein Staat mehr zu machen: Hinweisen möchte ich auf seine Verachtung der liberalen Demokratie, das Fehlen einer Ethik, die auch den politischen Kontrahenten mit einschließt, oder die polemische Haltung gegenüber konkurrierenden linken Strömungen. Marx hat seine linken Rivalen im Kommunistischen Manifest theoretisch erledigen wollen, seine Erben in der Sowjetunion haben das dann auch physisch getan. 1968 ist eine Erbschaft unserer Zeit, so oder so, die schwer wiegt. (Wolfgang Müller-Funk, Album, 2.9.2018)