Die Polizei wurde für ihren Einsatz am Sonntag und Montag heftig kritisiert. Am Donnerstag werden die Veranstaltungen mithilfe von Einsatzkräften der Bundespolizei sowie Bereitschaftspolizei aus fünf Bundesländern abgesichert.

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Michael Kretschmer lud zum "Sachsengespräch" und forderte die Abgrenzung von Rechtsextremismus.

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Hunderte Menschen stellten sich für den Einlass zum "Sachsengespräch" an.

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Rechtsextremisten am Montag in Chemnitz. Keines der zwölf angeblichen Opfer von Migrantengewalt auf dem Plakat sei eines aus Deutschland, berichtet Mimikama.

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Chemnitz – Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat die Chemnitzer dazu aufgerufen, eine klare Grenze zu Rechtsextremisten zu ziehen. Gleichzeitig erklärte der CDU-Politiker beim "Sachsengespräch" am Donnerstag, er werde sich gegen eine pauschale Verurteilung aller Bürger als Rechtsextreme stemmen. Kretschmer war mit mehreren Mitgliedern seines Kabinetts nach Chemnitz gekommen, um mit Einwohnern in den über die fremdenfeindlichen Ausschreitungen am Sonntag und Montag zu sprechen.

Vor dem Versammlungsgebäude protestierten etwa 900 Menschen, die dem Aufruf der rechten "Bürgerbewegung Pro Chemnitz" gefolgt sind. Die Polizei registrierte mindestens acht Straftaten, etwa Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Zudem erkannten die Beamten Teilnehmer wieder, die sich bei den Protesten am Montag strafbar gemacht hatten. Die Behörden sicherten die Veranstaltungen mithilfe von Einsatzkräften der Bundespolizei sowie Bereitschaftspolizei aus fünf Bundesländern ab. Insgesamt waren mehr als 1.200 Beamte im Einsatz.

Hetzjagden am Sonntag

Am Sonntag waren hunderte Menschen den Protestaufrufen, unter anderem von der AfD sowie einer rechtsextremen Hooligan-Gruppe, gefolgt. Sie zogen durch die Straßen von Chemnitz und griffen dort offenbar wahllos Unbeteiligte an, von denen sie wegen ihres Aussehens annahmen, dass diese keine Deutschen seien. Auf Videos ist zu sehen, wie Kundgebungsteilnehmer Menschen verfolgen, beschimpfen und bedrohen.

Die Stimmung bei den Kundgebungen habe dazu geführt, dass mancher "völlig außer Rand und Band" geraten sei, sagte Kretschmer am Donnerstag. "Dem müssen wir alle miteinander mit aller Kraft entgegentreten." Wenn bei einer Demonstration der Hitler-Gruß gezeigt werde, "dann ist es an der Zeit zu sagen: Mit denen haben wir nichts zu tun. Wir suchen uns einen anderen Ort." Der CDU-Politiker wandte sich auch dagegen, die rechtsextremen Attacken allen Chemnitzern zuzuschreiben. "Das ist nicht so, und wir werden diesem Eindruck auch mit Kraft entgegentreten."

Immer wieder wird Kretschmer ausgebuht, etwa für die Ankündigung eines Konzerts der linken Chemnitzer Band "Kraftklub". Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig trifft es noch viel massiver, immer wieder kocht der Zorn des Publikums hoch, immer wieder wird sie niedergebrüllt. Die SPD-Politikerin muss Buh-Rufe einstecken, als sie daran erinnert, dass es auch Rechtspopulisten zugemutet werden könne, ihre Demonstrationen anzumelden. Ihre Aufrufe zur Mäßigung, gegen Hass und Gewalt, kommen beim Publikum überhaupt nicht gut an.

Distanz zur AfD

Der Ministerpräsident erklärte, er wolle "dafür sorgen, dass diejenigen, die mit einem Hitlergruß durch die Stadt gelaufen sind" , verurteilt werden, so Kretschmer. Gleichzeitig warnte er davor, die Chemnitzer "unter Generalverdacht" zu stellen.

Kretschmer war dabei sichtlich bemüht, in beiden Punkten auf Distanz zur AfD zu gehen – beziehungsweise ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. AfD-Chef Jörg Meuthen nämlich hatte die Kritik an den jüngsten Vorgängen vor allem als "maßloses Sachsen-Bashing" interpretiert. Sein Co-Vorsitzender Alexander Gauland äußerte Verständnis für die "ausrastenden" Demonstranten.

Haftbefehl kursierte auf Facebook

Kretschmer hatte seine Ansprache vor den rund 650 Menschen mit der Aufforderung zu einer Schweigeminute begonnen: "Wir erinnern an einen Chemnitzer Bürger – Daniel –, um den heute seine Familie, Angehörige, Freunde trauern." Der Deutsche war in der Nacht zum Sonntag getötet worden. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt zwei Migranten, den Mann erstochen zu haben.

Gegen einen Verdächtigen läuft nach Angaben des sächsischen Innenministeriums das Asylverfahren noch. Nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der rechtsextremen Pegida-Bewegung, auf seinem Facebook-Account den Haftbefehl gegen den Verdächtigen veröffentlichte, versprach Kretschmer Aufklärung. "Diese Veröffentlichung ist schändlich, und sie ist strafbewehrt", sagte er.

Ein Justizbeamter aus Dresden hat inzwischen zugegeben, den Haftbefehl abfotografiert und veröffentlicht zu haben. Der Anwalt des 39-Jährigen veröffentlichte eine Erklärung seines Mandanten. Demnach soll er "im Rahmen seiner Tätigkeit Kenntnis von dem Haftbefehl erhalten haben". Der "Bild" sagte der Beamte: "Ich habe den Haftbefehl fotografiert und weitergegeben, weil ich wollte, dass die Wahrheit und nur die Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit kommt." Aufgrund der Veröffentlichung ist er vom Dienst suspendiert worden.

Der zweite Verdächtige hätte bereits laut Medienberichten aus Deutschland abgeschoben werden sollen. Bereits 2016 hätte er nach Bulgarien überstellt werden sollen, wo er bereits einen Asylantrag gestellt hatte. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ließ anscheinend die Frist zur Abschiebung verstreichen.

Mehr als 5.000 Rechtsextremisten

Bei der bereits am Montag ebenfalls von "Pro Chemnitz" angemeldeten Demonstration standen die laut offiziellen Angaben 591 abgestellten Polizisten gegenüber den 5.000 Rechtsextremisten auf verlorenem Posten: Obwohl die Demonstranten Hitlergrüße zeigten, Polizeiketten überrannten, Flaschen und Böller auf Gegendemonstranten warfen und am späten Abend gezielt Menschen angriffen, wurde kein einziger festgenommen.

Es seien 43 Strafanzeigen erstattet worden, davon elf wegen Körperverletzungsdelikten, erklärte ein Polizeisprecher. Wie viele sich davon gegen Teilnehmer der rechtsextremen Demonstration richteten und wie viele aufseiten der Gegendemonstration gestellt wurden, konnte er nicht angeben.

Keine Gegendemonstration

Das Bündnis "Chemnitz Nazifrei" hat für Donnerstag keine Gegendemonstration zur "Pro Chemnitz"-Versammlung angemeldet. "Die Demonstration am Montag hat uns gezeigt, dass die Polizei derzeit nicht willens oder in der Lage ist, unser Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und körperliche Unversehrtheit zu garantieren", so die Initiatoren in einem Facebook-Post. "Aufgrund der Aggressivität und des Gewaltpotenzials, was von den Anhängern der beiden Demonstrationen am Sonntag- und Montagabend ausging, halten wir es für unverantwortlich, zu einer Demonstration am Stadion aufzurufen."

Für den kommenden Samstag, an dem unter anderem die AfD und Pegida zu einem Schweigemarsch durch die Chemnitzer Innenstadt aufgerufen haben, kündigt das Bündnis "Chemnitz Nazifrei" allerdings wieder einen "breiten und großen Protest" an. Unter anderem soll die Band Madsen auftreten.

Einer Demonstration gegen Gewalt und Fremdenhass in Berlin-Neukölln haben sich am Donnerstagabend nach Polizeiangaben aber gut 5.000 Menschen angeschlossen – weit mehr als erwartet. Eine Privatperson hatte laut Polizei nur 100 Teilnehmer angemeldet. Die unter anderem vom Jugendverband der Linkspartei, Solid, organisierte Demonstration richtete sich gegen die Ausschreitungen und Zusammenstöße der vergangenen Tage in Chemnitz und stand unter dem Motto "Ob Chemnitz oder Neukölln: Auf die Straße gegen rechte Gewalt".

Kriminalbeamte stellen Forderungen

Nach den Ausschreitungen werden die Forderungen nach einem entschiedeneren Handeln von Politik und Strafverfolgungsbehörden lauter. Die Politik müsse "spürbar" agieren, forderte der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Es sei inzwischen unübersehbar, dass Rassismus und Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft "salonfähig" seien, sagte der stellvertretende BDK-Vorsitzende Sebastian Fiedler dem "Handelsblatt".

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, verwies auf die Personalknappheit bei der Polizei. "Es gibt Räume, wo das Recht nicht durchgesetzt wird, weil es ein Vollzugsdefizit gibt", sagte Malchow. Die Ausschreitungen in Chemnitz sollten "ein Alarmsignal für die Politik sein, mit aller Konsequenz zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen".

Auch in der Wirtschaft wächst die Sorge angesichts der jüngsten Vorfälle in Chemnitz: Die Geschäftsführerin der in Sachsen ansässigen Uhrenfirma Nomos, Judith Borowski, sagte dem "Handelsblatt", der Rechtsextremismus sei zur "gefährlichen Normalität" herangereift. "Sachsen ist stark braun gesprenkelt." Das seien "nicht nur ein paar Ewiggestrige und Neonazis. Die Fremdenfeindlichkeit, der Hass auf die etablierte Politik, die Enttäuschung über die Demokratie – das alles findet hier mittlerweile einen breiten Konsens." (red, APA, Reuters, 30.8.2018)