1983 bin ich mit einer Schachtel Schwarz-Weiß-Fotos in die Angewandte, und dort ist Erich Lessing gesessen, hat sich das kurz angeschaut und gemeint: "Sehr schön, kommen Sie am Nachmittag wieder, und nehmen Sie die Fotos mit." Die Fortsetzung war dann vor einer Gruppe von etwa 20 Studierenden.

"Ganz wunderbar. Bitte schauen Sie sich das genau an. Hier sehen Sie alle Fehler, die man in der Fotografie machen kann." Es folgte eine der unerbittlichsten, aber auch herzlichsten Kritiken, die ich je an meinen Fotos bekommen habe. In diesem Fall waren die Fotos erste Versuche, ein Herantasten an die Pressefotografie: eine Art Dokumentation über eine Straßenbahnremise. Glücklicherweise habe ich den Wert dieser Kritik instinktiv richtig erkannt – so wie auch den warmherzigen Kern der etwas rau verpackten Botschaft.

Erst nach und nach habe ich Erich und seine Arbeit als Fotograf kennengelernt. Es gibt ein Fotobuch, das ich als Kind von meinem Großvater geschenkt bekommen habe, oder besser: Er hat es mir überlassen, nachdem ich es entdeckt und nicht mehr ausgelassen hatte. Das Buch heißt "Kinder aus aller Welt" und ist eine Zusammenstellung von Kinderfotos hauptsächlich von Magnum-Fotografen. Ich habe dieses Buch geliebt und viele hundert Mal durchgeschaut.

Diese Fotos haben mir schon als Kind die Möglichkeiten der Fotografie eindrücklich vor Augen geführt. Die Welt mit ihren unendlich vielen Möglichkeiten, auf ihr zu leben, und die Ernsthaftigkeit, mit der eine Anzahl dieser Möglichkeiten zu leben genau betrachtet wurde, waren und sind faszinierend. Die Fotografie als die Lupe, die das Sehen schärft.

Eines dieser Fotos, an die ich mich noch immer genau erinnere, war von Erich Lessing. Ein Mann, ein Beduine vielleicht, der mit der einen Hand ein Behältnis mit Wasser über den Po eines zu ihm gehaltenen Babys gießt. Die andere Hand ist an seiner Nase, und es ist nicht klar, aber naheliegend, dass das mit dem Säugling zu tun hat.

So ist Erich in mein Leben getreten, lange bevor wir uns 1983 das erste Mal gesehen haben. Schon für dieses eine Foto, lieber Erich: vielen, vielen herzlichen Dank. Ruhe in Frieden. (Matthias Cremer, 29.8.2018)

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Fotos: Matthias Cremer