Großer Musiker, lässiger Kettenraucher und Medienstar: der vielschichtige und widersprüchliche Leonard Bernstein bei einem Besuch in München.

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DER ZERRISSENE

Leonard Bernstein, Spross einer jüdischen Einwandererfamilie aus der Ukraine, besetzte das dionysisch-ekstatische Rollenfach. Sein hochproduktiver Dauerstress, den er in Herzlichkeit packte, darf dabei auch mit einander behindernden Sehnsüchten erklärt werden: Bernstein war ein Dirigent, der darunter litt, nicht ausreichend Komponierzeit zu besitzen. Er war ein Komponist, der die Einsamkeit des Schreibenden schätzte und doch am liebsten Leute um sich scharte ("Ich kann keinen Tag alleine verbringen, ohne depressiv zu werden"). Er war ein erfolgreicher Komponist, den es wurmte, nur mit dem Musical West Side Story assoziiert zu werden. In ihm schlummerte Familiensehnsucht, und doch war er immer in Affären verwickelt. In den 1970ern verließ er seine Frau Felicia für Tom Cothran, um ein Jahr später zu der Krebskranken zurückzukehren.

Bernsteins Zerrissenheit spiegelt sich auch in der Nähe zu Gustav Mahler wider – dem Komponisten und Dirigenten, der für Bernstein eine Figur zwischen Romantik und Moderne war. Zu viele Talente in einer Person wie bei Mahler? Zu viele Personen in einer? Womöglich. Es sollten täglich 150 Zigaretten der Marke Carlton und Whiskey helfen, die Balance zu halten. "Ich rauche, ich trinke, ich bleibe die ganze Nacht auf und vögle herum. Ich kämpfe an allen Fronten, und das gleichzeitig", jubelte Bernstein noch 1986, vier Jahre vor seinem Tod.

DER EKSTATIKER

Den Karrierestart verdankte Bernstein, der Assistenzdirigent bei den New Yorker Philharmonikern war, seiner Kompetenz und seiner Spontaneität: Bruno Walter erkrankte, Bernstein übernahm am 13. 11. 1943 und reüssierte in der Carnegie Hall mit Schumann und Strauss. Die Reisekarriere begann, erst 1958 wurde Bernstein als Chef der New Yorker sesshaft (bis 1969). Repertoire? Barock und die europäische Moderne (nach 1945) tangieren ihn nicht. Bernstein war an der Wiener Klassik interessiert und im Grunde Romantiker: Brahms, Schumann und besonders Mahler lagen dem Ex tremkünstler. Ekstatiker Bernstein wirkte, als wollte er zu Musik werden, als wollte er beim Dirigat ein Werk neu komponieren.

Sein tänzerisch-überbordender Stil war jedoch kein choreografischer Bluff. Er basierte auf fundierten Kenntnissen und dem Wunsch nach Unmittelbarkeit. Mahlers Rückert-Lieder mit dem jungen Thomas Hampson (etwa Ich bin der Welt abhanden gekommen) zeigen: Intensiver sind entschleunigte Poesie, Orchesteraura und Existenzielles nicht zu verschmelzen. Christa Ludwig, die Bernstein auch bei Liederabenden begleitet hat, meinte: "Karajan war ein genialer Interpret, Bernstein war ein Genie!" Bernstein leitete übrigens im Jahr 1989 die Gedenkstunde für den verstorbenen Karajan im Wiener Musikverein.

DER VERKANNTE

Die New Yorker Philharmoniker verließ Bernstein auch, um mehr komponieren zu können: als Eklektiker, der auf die Durchlässigkeit zwischen Romantik und Popkultur Wert legte. Seine zweite Symphonie hat etwas von Gershwin, Prelude, Fugue and Riffs ist angelehnt an den Jazz. Zwölftontechnik kam vor (in Mass, worin es um die Jugendbewegung der 1960er geht): Bernstein war aber ein Mann der tonalen Musik, der im Musicalbereich mit der West Side Story Maßstäbe setzte und nur von diesen Tantiemen hätte leben können. Er litt aber unter dem Ruf, ein "One-Hit-Wonder" zu sein: Weder Mass noch 1600 Pennsylvania Avenue (über den Watergate-Skandal) wie auch die Oper A Quiet Place waren Erfolge. Frühe Musicals wie On the Town kamen an. Im "ernsten" Fach jedoch fühlte sich Bernstein nie angenommen.

DER VERMITTLER

Als Musikerklärer war "Lenny" aber in seinem Element: Bei den Young People’s Concerts, die im TV übertragen wurden, entfaltete er ab 1958 mit den New Yorkern sein Charisma als eloquenter Allrounder. In den 1960ern war ein Millionenpublikum per TV dabei, die 55-minütigen Musikshows zu erleben, die zum Inbegriff der so substanzvollen wie unterhaltsamen Vermittlung von Musik wurden. Bis 1972 leitete Bernstein insgesamt 53 solcher Konzerte.

"Music is never about anything": Leonard Bernstein bei einem seiner "Young People's Concerts".
ArtfulLearning

DER ENTERTAINER

"Für mich existiert nichts wirklich, wenn ich es nicht geteilt habe", sagte Bernstein. Und er teilte alles auch medial, liebte die Kamera und ließ fast exhibitionistisch dokumentieren: den dirigentischen Überschwang, den Wunsch, die Welt musikalisch in sich aufzunehmen wie auch den Ärger. Legendär, wie er Tenor José Carreras bei der Aufnahme zur West Side Story wegen einer falschen Note verzweifelt ankeift, worauf Carreras verärgert weggeht.

Leonard Bernstein und José Carreras bei Aufnahmen zur "West Side Story".
Chris Nelson

Ein kleines Drama, das gut ausging. Es prägte sich aber ein, es mehrte Bernsteins Ruhm, zementierte sein Image als Archetypus des impulsiven Maestros. Für ihn interessierte sich das FBI (wie für viele Linksliberale) wie auch die Familie Feuerstein: Fred und Wilma gehen – in einer Trickfilmfolge – ins Konzert, um "Leonard Bernstone" zu hören. Er wäre am Samstag 100 Jahre alt geworden. (Ljubiša Tošić, 24.8.2018)