Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) und Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) prosten einander zu.

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Kirtagsstimmung im Abendlicht.

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Bei den Standeln gab es einiges zu erstehen – zum Beispiel Blumenschmuck für die Haare.

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FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus spendete erst kürzlich 7.000 Euro an den Neustifter Weinbauverein.

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Wien – Ein rotes Trachtengilet trägt Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) an diesem Abend, keine Lederhose, wie er bedauert. Er kommt direkt von einer Sitzung, fürs Umziehen war nicht genug Zeit. Nun wartet er beim Heurigen Zeiler am Hauerweg auf die Eröffnung des Neustifter Kirtags. Ludwig ist schon oft hier gewesen, früher als Stadtrat, heute zum ersten Mal als Wiener Bürgermeister. Der Chef des Heurigen spricht dem Politiker, der nun bald drei Monate im Amt ist, deswegen anerkennende Worte aus. Sein Vorgänger Michael Häupl, sagt Wolfgang Zeiler, sei nicht immer da gewesen.

Bürgermeister Michael Ludwig im Video-Interview.
DER STANDARD

Circa 300 Meter weiter treffen zur gleichen Zeit weitere Politiker und Promis am Fuße der Rathstraße ein, wo der Eröffnungsumzug des traditionsreichen Kirtags startet. Hier geben vor allem Politiker der FPÖ den Ton an: Vizekanzler Heinz-Christian Strache, Klubobmann Johann Gudenus und der nichtamtsführende Vizebürgermeister Dominik Nepp.

Dirndlhype und Diskont-Trachten-Outfit

Es liegt Wahlkampfstimmung in der Luft, obwohl heuer gar keine Wahl stattfindet. Die Mitarbeiter der Parteien haben Stände aufgebaut, wo Kugelschreiber und Luftballons verteilt werden. Der Neustifter Kirtag in Döbling erfährt in den letzten Jahren einen regelrechten Boom. Auf den Zug ist die Politik längst aufgesprungen. An die 100.000 Besucher wurden an vier Tagen erwartet.

Der Trachtenhype ist nicht zu übersehen. Bis in die Nullerjahre kamen die Gäste im Sonntagsanzug, schlicht und festlich gekleidet, erzählt ein langjähriger Gast, heute sind Dirndl und Lederhose nahezu Pflicht. Außer auf der Wiener Wiesn, die ab Herbst wieder im Prater stattfinden wird, gibt es in der Bundeshauptstadt nicht so viele Gelegenheiten, das Traditionsgewand auszuführen. Zwei Burschen haben noch rasch beim Hofer ihr Diskont-Trachten-Outfit gekauft, um nicht aus der Reihe zu tanzen.

Der Kirtag sei ein "guter Anlass, fernab der Politik mit Menschen ins Gespräch zu kommen", begründet Bürgermeister Ludwig seinen Besuch. Für den Trachtenboom hat er folgende Erklärung: In Zeiten der Globalisierung suchen die Menschen nach einer Verortung und finden diese unter anderem in der Kleidung wieder. Als Wahlkampftermin sieht er das Fest nicht: Das sei nicht der Ort, wo "Holzhammerpolitisiererei" angebracht sei.

Vizekanzler Heinz-Christian Strache im Video-Interview.
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Strache schwärmt von der "wundervollen Tradition" des Festes. Seit 1753 findet der Kirtag jährlich am Wochenende nach dem heiligen Rochus (16. August), dem Schutzpatron der Pfarre Neustift am Walde, statt. Das Event dauert traditionell von Freitagnachmittag bis Montagabend. Den Ursprung nahm es in einem schlechten Erntejahr, als die Weinbauern bei Maria Theresia darum baten, die Steuer einbehalten zu dürfen. Als Geschenk überreichten sie ihr eine Hauerkrone.

Kirtagsgast Richard Lugner mit Begleiterinnen.
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Diese spielt auch heute noch eine zentrale Rolle. Eine Nachbildung des Originals steht im Mittelpunkt der Eröffnungszeremonie. Weinbauern, Politiker und Kirtagsgäste haben in der Zwischenzeit beim Eingang zum Weinfest Aufstellung genommen, um sie die Rathstraße entlang zum Heurigen Zeiler zu tragen, wo die offizielle Eröffnung vollzogen wird. Es ist ein dichtes Gedränge. Fotografen und Videoteams sind da, um die Szenerie einzufangen.

Beim Zeiler angekommen, ist Wohlfühlatmosphäre ist angesagt. Über kritische Themen wie Putins Besuch bei der Hochzeit von Außenministerin Karin Kneissl oder gar die Einführung des Zwölfstundentages wird in den Eröffnungsreden kein Wort verloren.

Der Neustifter Kirtag 2018.
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Rot-blaues Duell um Wien

Ludwig und Strache prosten einander freundschaftlich zu. Treffen hier die Spitzenkandidaten von SPÖ und FPÖ der nächsten Wien-Wahl oder gar künftige Koalitionspartner aufeinander? "Ist eh noch der G'scheitere bei den Roten", kommentiert ein Festgast den aktuellen Bürgermeister.

Seit Jahren wird ein rot-blaues Duell um Wien ausgerufen. Bei der Wahl 2015 konnte die SPÖ die FPÖ dann aber klar hinter sich lassen. Die SPÖ kam auf 39,6, die FPÖ auf 30,8 Prozent. Die nächste Wahl steht planmäßig 2020 an.

Wiener als "gemischter Satz"

Doch auch ein Schwarzer spielt – zumindest in Döbling – nach wie vor eine gewichtige Rolle. Pflichttermin ist der Neustifter Kirtag für den Langzeit-Bezirksvorsteher Adi Tiller (ÖVP), der hier schon in jungen Jahren feierte und seit 1978 im Amt ist. Er bekommt von Ludwig den Goldenen Rathausmann überreicht. Der Bürgermeister ist bei seiner Rede bemüht, möglichst alle zu bedienen: "Der Gemischte Satz ist ein besonderer Wein dieser Stadt, und irgendwie sind wir Wiener auch ein gemischter Satz."

Nach der offiziellen Eröffnung trennen sich die Wege von Ludwig und Strache. Der Vizekanzler posiert für Selfies mit Kirtagsgästen. Der Bürgermeister wird von einem Tross begleitet, der Lebkuchenherzen mit der Aufschrift "Mein Herz schlägt für Wien" verteilt.

Auch im Dirndl bleibt man gerne up to date.
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Strache beschreibt sein Outfit: Er trage eine oberösterreichische Lederhose aus Ried, die "einfach gut sitzt" und ihm deshalb gefalle. "Wenn die Hände schmutzig sind nach einem Schweinsbraten, kann man sich reinwischen, dann wird sie speckig." Dass er mit Ludwig angestoßen habe, kommentiert Strache nicht näher, er sagt: "Es liegt in der Wiener Bürgermeistertradition, dass einem nicht nur der Weiße Spritzer, sondern auch der Gemischte Satz schmeckt."

Grüne Turbulenzen

Und Ludwig beschäftigt sein aktueller Koalitionspartner mehr als ein möglicher zukünftiger. "Die Grünen müssen für sich selbst einen Weg finden. Man kann ihnen nur einen Rat mit auf den Weg geben und empfehlen, das möglichst bald zu entscheiden", kommentiert er die dortige Suche nach einem Spitzenkandidaten. Er sehe derzeit aber keinen Grund, die Koalition vorzeitig zu beenden. Wichtig sei ihm das Klima, das so sein müsse, dass die Bevölkerung "den Eindruck hat, dass gemeinsam auch was weitergeht". Positive Worte findet er für Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, die seiner Meinung nach "unter ihrem Wert geschlagen" wird.

Buben in Lederhosen ergatterten einen Luftballon in Türkis.
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Grün findet man am Neustifter Kirtag heuer dennoch nur im Veltliner. Während Neos, ÖVP, FPÖ und SPÖ im Vorwahlmodus teils mit eigenen Standeln um Stimmen werben, ist die Ökopartei in den Weinbergen nicht vertreten.

Polizei und Partyhits

Je länger der Abend, desto jünger werden die Kirtagsgäste. Die stark vertretenen Polizeikräfte bauen sich gekonnt zwischen den um die Gunst der Mädchen balzenden Burschen aus, deren alkoholgetränkte Fäuste immer lockerer werden. "Disneyland", moniert ein Besucher in "echter Traditionstracht", der von der Selfie-Generation nicht angetan ist. Im Schreiberhaus, dem Hotspot unter den jungen Feiernden, dröhnt kurz vor halb zehn der Allzeit-Partyhit "YMCA" aus den Boxen. Im dichten Gedränge wird auf den Heurigenbänken und -tischen getanzt.

Nach der Sperrstunde in Neustift hat das Feiern übrigens kein Ende: Shuttles bringen die Gäste im Zehnminutentakt zur Afterparty in die Kattus-Sektkellerei. "Am härtesten" sei traditionellerweise der Ausklang, meint Johann Gudenus. Der Kirtag geht noch bis Montagabend. (Rainer Schüller, Rosa Winkler-Hermaden, 18.8.2018)