STANDARD: Auf Twitter haben gerade viele Menschen mit Migrationshintergrund von erlebtem Alltagsrassismus berichtet. Wenn man die Beiträge unter dem Hashtag MeTwo liest, fällt die häufige Kritik an Pädagogen auf. Ist das nicht besorgniserregend?

Faßmann: Ich habe das, ehrlich gesagt, noch nicht gelesen.

Unger: Sie sollten sich diese Kampagne anschauen. Da schildern sehr viele Menschen ihre persönlichen Erfahrungen.

Faßmann: Danke für den Hinweis, ich werde mir das anschauen. Als deutscher Zuwanderer könnte ich vielleicht auch einen Tweet schicken, nämlich darüber, wie es ist, als Kind beim Bäcker nach Brötchen zu verlangen – um dann vom Bäcker gemaßregelt zu werden: Bei uns heißt das noch immer Semmel! Das ist verglichen zu anderen Formen von Diskriminierung harmlos, als Kind wird einem aber deutlich gemacht, dass man noch nicht Teil der Aufnahmegesellschaft ist. Aber ehrlicherweise muss man sagen, dass so etwas in einer Zuwanderersituation ein Teil eines unvermeidbaren Lernprozesses ist.

STANDARD: Dem Einzelnen hilft das aber gar nicht.

Faßmann: Das ist richtig. Man muss daher Systeme schaffen, die mit Toleranz ausgestattet sind.

Suchen die Traumschule: Bildungsminister Heinz Faßmann kann sich Wahlmodule innerhalb eines Fachs vorstellen, Regisseurin Mirjam Unger will gleich radikalere Wege gehen.
Foto: Hendrich

STANDARD: Zwei Beispiele: "Lehrer in der Schule: Du musst die Nationalhymne nicht können, Du hast ja Schlitzaugen." Oder: "4. Klasse, es geht um weiterführende Schulen. Ich bin Klassenbeste. Lehrerin empfiehlt Hauptschule, damit ich ,unter Gleichgesinnten‘ bin."

Faßmann: Ich habe an der Universität Wien einmal eine Diversity-Studie veranlasst, an der rund 19.000 Studierende teilgenommen haben. Da kamen auch solche Statements. Ein Professor hat zu einem Studierenden, der ein "gut" bekommen hat und eine bessere Note haben wollte, gesagt: "Wir sind hier nicht auf dem Basar in Istanbul." Klarerweise muss man darauf reagieren.

STANDARD: Und wie?

Faßmann: Bei meinem Basar -Beispiel hätte ich die Gleichbehandlungsstelle an der Uni empfohlen und gesagt: Melden Sie das!

Unger: Und in der Schule?

Faßmann: Die Bildungsdirektion.

Unger: Wer auf dem Land wohnt ...

Faßmann: ... kann anrufen oder eine E-Mail schreiben.

Unger: Und mit der passiert was?

Faßmann: Solche Dinge müssen natürlich untersucht werden. Tritt das gehäuft in einer Schule auf? Dann gehört mit der Schulleitung gesprochen. Oder es braucht dann vielleicht eine Schulung.

Unger: Ich vermisse, dass Diversität ein wirkliches Thema an den Schulen ist. Wenn ich etwas Gutes aus meiner Ausbildung mitgenommen habe, dann ist es, über nationale Grenzen hinweg zu schauen, andere Religionen kennen und verstehen zu lernen, einander zu tolerieren und neugierig auf einander zu sein.

STANDARD: Sie waren in Wien auf einer französischen Privatschule.

Unger: Mein Vater war am Lycée Mathematiklehrer, daher gab es für meine zwei Schwestern und mich einen vergünstigten Preis. Es war eine gute Ausbildung, aber ich befand mich in einer Blase und habe von der Welt draußen wenig mitbekommen. Der Druck war so stark, dass ich das für meine Kinder nicht wollte.

STANDARD: Die Tochter ging auf die Waldorfschule, der Sohn geht auf ein öffentliches Gymnasium. Drei Schultypen – was ist der Beste?

Unger: Die Freude, in die Schule zu gehen, ist das Entscheidende. Für meine Tochter war die Waldorfschule die richtige Wahl. Mein Sohn hat sie abgelehnt und befunden: Das ist eine Baumschule! Für ihn gab es einen anderen Weg.

"Die Freude, in die Schule zu gehen, ist das Entscheidende", sagt Regisseurin Mirjam Unger zu Minister Heinz Faßmann.
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STANDARD: In Wien besucht fast jedes fünfte Kind eine Privatschule. Sind die Öffentlichen zu schlecht?

Faßmann: Ich sehe das ambivalent. Einerseits sind Privatschulen eine Bereicherung des Systems, weil neue Ideen in die Praxis umgesetzt werden. Sie schaffen auch eine größere Spannbreite des Bildungsangebots. Auf der anderen Seite stellt sich natürlich schon die Frage, warum gerade bildungsnähere Mittel- und Oberschichten ihre Kinder dort hinschicken. In einem gewissen Sinn ist das ja eine Art Abstimmung, die mit der Bildungsentscheidung für die Kinder einhergeht.

STANDARD: Und diese Abstimmung verlieren die öffentlichen Schulen?

Faßmann: Es gibt eine Unzufriedenheit mit dem öffentlichen System – ob real oder imaginiert, ist eine ganz andere Frage. Ich finde nämlich, dass unser öffentliches System gut aufgestellt ist. Aber es gibt schon sehr ambitionierte Eltern, die noch ein bisschen mehr machen wollen. Man soll es aber nicht übertreiben.

STANDARD: Früher hat die Schule ums Eck genügt.

Faßmann: Ich bin ums Eck geschickt worden. Bei mir war die geografische Distanz zum Wohnort das Wichtige.

Unger: Ich bin Lesepatin in der Volksschule Brüßlgasse in Wien-Ottakring und habe einen irrsinnigen Respekt vor den Pädagoginnen dort. Die Kinder können fast alle zwei Sprachen. Da sind übrigens alle in einer Klasse, da wird niemand rausgenommen.

Faßmann: So ein zivilgesellschaft liches Engagement ist unglaublich wichtig und wertvoll. Es ist eine Illusion zu glauben, der Staat könne hier alles. Das ist so eine etatistische Vorstellung, die durch die lange Vergangenheit als monarchisches Land entstanden ist. Viele glauben, dass immer alles von oben kommen muss. Zu den Deutsch förderklassen: Sie betreffen Schülerinnen und Schüler, die neu hinzukommen, die Deutschprobleme haben, die ich fit machen will für den Regelunterricht.

Unger: In dem Sheet, das Sie an die Schulen geschickt haben, steht ständig: Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch. Da bekommt man es fast mit der Angst zu tun.

Faßmann: Mir ist schon klar, dass das oftmalige Erwähnen von "Deutsch, Deutsch, Deutsch" auch nerven kann, aber gerade in den Schulen mit einer pluralistischen Zuwanderung brauchen wir das Übergreifende. Und das ist nun mal Deutsch bei uns.

STANDARD: Sämtliche Experten sind gegen Deutschförderklassen.

Faßmann: In Österreich, ja. Aber nur in Österreich.

Unger: Es haben auch viele Schuldirektoren protestiert.

Faßmann: Fragen Sie Experten in Deutschland. In Österreich orte ich eine gewisse Inkonsequenz und immer das Negieren dessen, dass die Deutschförderklasse nur teilweise und zeitlich separiert. An den Unis gibt es auch separierte Vorbereitungskurse, seit Jahrzehnten – und ohne Kritik!

Unger: Es ist schon ein Separieren und Auseinanderdividieren.

Faßmann: Aber auch die Hoffnung, dass man über die gemeinsame Sprache Deutsch den Weg zueinanderfindet.

Schule sollte "schülerinnen- und schülerzentriert sein, sie soll Freude machen und Neugierde behalten und den positiven Blick auf Bildung bewahren", findet Bildungsminister Heinz Faßmann.
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STANDARD: Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Was müsste sich an der Schule ändern, damit sie Ihrer Vorstellung am nächsten kommt?

Faßmann: Der zukünftige Zustand ist vom jetzigen auch abhängig. Ich kann komplexe Systeme nicht niederreißen und vollkommen neu aufbauen. Wie die Schule ausschauen soll? Sie soll schülerinnen- und schülerzentriert sein, sie soll Freude machen und Neugierde behalten und den positiven Blick auf Bildung bewahren. Dazu kommt eine Ausbildungsfunktion, wir leben nicht in einem ökonomisch luftleeren Raum.

Unger: Den Raum schaffen und die Zeit haben, Dinge zu hinterfragen und ausprobieren zu können. Oder konkret: In einer Schule gibt es zum Beispiel zwei Wochen, in denen ausprobiert wird, wie eine Schule ohne Stundenplan ist.

Faßmann: So etwas ist ja jetzt schon möglich. Aber Sie haben schon recht, wir müssen uns die Lehrpläne anschauen. Schaffen die Lehrpläne auch Freiräume? An der Uni wären das die Wahlfächer. Derzeit werden die Lehrpläne, die teilweise jahrzehntealt sind, kritisch hinterfragt.

STANDARD: Können am Ende dann solche Wahlfächer stehen?

Faßmann: Oder Wahlmodule innerhalb eines Fachs, in denen sich eine Lehrkraft gemeinsam mit den Schülern ein Thema aussucht und das vertieft. Es gibt Grundkompetenzen, die gehören erlernt, daneben gibt es aber auch jede Menge anderes.

Unger: Ich habe meinen Sohn und seine Freunde gefragt, was ich Ihnen als Bildungsminister sagen soll. Da kam: Sie würden sich ihre Fächer gern selber aussuchen können – nämlich jene, die sie wirklich interessieren. Und sie würden gerne zu den Lehrern gehen, die sie spannend finden. Das wäre gleich eine Messung, wer gut und wer schlecht unterrichtet.

Faßmann: Das geht in das wirkliche Modulsystem, wie ich es an den amerikanischen Highschools bei meinen Kindern kennengelernt habe.

STANDARD: Können Sie sich das in Österreich vorstellen?

Faßmann: Ich werde das in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zustande bringen. Es ist aber ein interessantes Modell.

STANDARD: Sie sind jetzt sieben Monate in der Spitzenpolitik: Wie viel Reform geht – Stichwort Föderalismus?

Faßmann: In der Bildungspolitik kann man sich nicht hinstellen und sagen: Das machen wir! Es braucht viele Gespräche und eine große Konsens- und Kompromissfähigkeit. Eines ist klar: Wir leben in keinem reformfreudigen System.

Unger: Leiden Sie darunter?

Faßmann: Leiden? Ich habe ein langes Berufsleben hinter mich gebracht. Auch die Universitäten waren so gestrickt. Dahingehend bin ich ein trainierter Österreicher geworden. (Peter Mayr, 11.8.2018)