Im Land der Phäaken: "Selbstversenkung" heißt die "Luftballonaktion" auf dem Attersee aus dem Jahr 2007 des Künstlers Werner Schrödl.

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Rindviecher und Bauland: "Jetzt fließt bald Geld ... Dieses grüne Einerlei, das sich nutzlos bis zum Rand des Höllengebirges erstreckt, ist in Wahrheit eine Vergeudung. Soll man derartiges Grünland Kühen überlassen?"

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Reinhold Knoll ist Emeritus am Institut für Soziologie der Universität Wien, Autor und Mitherausgeber der Buchreihe "Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung" (Facultas). Er verbringt seit Jahrzehnten die Sommerfrische im Salzkammergut.

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Seit der Antike sind die Phäaken in der Erzählung Homers dafür bekannt, sorglos leben zu können. Die Insel war von der Natur begünstigt, daher fruchtbar, und kaum ein Handgriff war nötig, um für den nächsten Tag zu sorgen. Selbst in der Seefahrt waren die Phäaken berüchtigt, nämlich keinen Finger rühren zu müssen, also fuhren sie ohne Segel dank Westwind nach Belieben aufs offene Meer hinaus.

Josef Weinheber hat in seinem Gedicht einem "Phäaken" ein Denkmal gesetzt. Dieser war dadurch auffällig geworden, täglich von Wirtshaus zu Wirtshaus zu wandern und unaufhörlich zu essen. Bald war die Alpenrepublik als Land der Phäaken bekannt, denn nirgendwo würde man "ein so geruhsames, sorgloses und üppig dahinlebendes Volk" antreffen. Immerhin hat sich diese Charakteristik bis in die "Wikipedia" erhalten.

Allerdings haben solche Selbstbeschreibungen fatale Folgen. Sie verleiten zuweilen auch heute noch zum Wunsch, in dieser Sagenwelt leben zu wollen. Und in der modernen Ökonomie ist ein arbeitsloses Einkommen auch nicht mehr unmoralisch. Erste Indizien waren im Winter zu entdecken: Recht gut lässt es sich in vormals dürftigen Bergdörfern durch die Vermarktung von Schnee und Steilhängen leben.

Den wesentlichen Beitrag leistet regelmäßig die Natur, da ist kein Handgriff erforderlich – nur Ski für Touristen. In den Sommermonaten hätte man sich fast benachteiligt gesehen, hätte nicht die Einmaligkeit der Naturlandschaft über die Durststrecken hinweggeholfen. Später als in Kitzbühel, Zürs oder Lech war man auch im Salzkammergut vor 40 Jahren aus dem ökonomischen Tiefschlaf erwacht.

Behäbige Villen

Natürlich hat es den Fremdenverkehr schon vor 170 Jahren gegeben. Die Seeufer waren schon damals von behäbigen Villen umgeben, aber zumeist waren die Gründe weder auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, noch waren sie für Betriebsansiedlungen geeignet, sieht man von Fischern und Bootsbauern ab. Da die Landbevölkerung kaum schwimmen konnte, blieben Traunsee und Mondsee samt Atter- oder Wolfgangsee der mondänen Welt des Fin de Siècle vorbehalten.

Vor mehr als hundertfünfzig Jahren hatte "der Kaiser" sein einziges Talent zur Vollendung gebracht, nämlich die pseudofeudale Sub- und Jagdkultur in Ischl zu stiften – wie sie der österreichische Soziologe Roland Girtler oft treffend beschrieb. Die bourgeoise "Subkultur" zwischen Eitelkeit und Präpotenz, die dank Mozarts Salzburg und Lehárs Ischl ein Dauerabonnement auf erlesenste kulturelle Selbstwertgefühle beanspruchte, ging rücksichtslos über die Sorgen der Ureinwohner hinweg.

Die Villen- und Seegrundbesitzer saßen breit auf ihren Besitzungen, waren fast zu Selbstversorgern geworden, und auch stolze Bauern, die die ältesten Lederhosen trugen, ihre Frauen kostbarste Goldhauben, verkamen zu Dienstleistern des Heckenschneidens und Rasenmähens der Villen- und Seegründe. Wenn es je ein Land gegeben haben soll, das wie Scheria, die Heimat der Phäaken, bewohnt wurde, so war das paradiesische Salzkammergut nun kein Schlaraffenland mehr.

Abrisse rund um Attersee

Es ist vielfältigen politischen Initiativen zu verdanken, wenigstens zum Teil diesen paradiesischen Zustand wiederherstellen zu wollen. Im Salzkammergut war es aber nicht der Schnee, dessen "weißes Gold" auf dem Arlberg oder in Serfaus, Schladming und Turrach dieses Glück erlaubte. Erst mit der Überproduktion landwirtschaftlicher Güter, dank holländischer Tomaten und deutschen Käses, dank Durumweizens und Plus-Zuckerrübe, waren die romantischen Wiesen entbehrlich geworden.

Vielfach war diese neurotische Unterteuftheit alter Bauernhäuser fast schon ein Schandfleck im Ort, eine Erinnerung an Zehent und Robot. Konsequent hatte man daher die ältesten Häuser rund um den Attersee abgerissen, die noch Zeugen der Bauernkriege im 17. Jahrhundert waren – soeben in Unterach das letzte alte Wirtshaus.

Vermutlich war es aus ähnlichem Unwissen beseitigt worden wie 1922 das noch in Resten bestehende Pfahlbaudorf um Seewalchen. Wegen der Filmaufnahmen zu Sterbende Völker von Robert Reinert hatte man diese Pfahlbaudörfer am Ufer des Attersees rekonstruiert, um diese dann dramatisch samt den archäologischen Resten für die Dreharbeiten in Brand zu setzen.

Im Film noch immer eindrucksvoll zu sehen, verbrannten die heute mühevoll von Tauchern gesuchten archäologischen Schätze. Freilich war dieses Schauspiel brennender Dörfer am Attersee von der Ortsbevölkerung begeistert akklamiert worden, war sie vielleicht froh, dass dieses Erbe aus der historisch bedeutsamen Mondsee-Kultur endlich und so spektakulär beseitigt worden war.

Nun waren wirklich nur anspruchslose Futterwiesen, steinige Kalkböden und Mischwald übriggeblieben. Zur allgemeinen Überraschung versprechen diese unprätentiösen Futterwiesen und Almböden, die nur die Eigenschaft eines einheitlichen wie langweiligen Grüns vorweisen können, bald hohen Gewinn bei wenig Arbeit.

Geschichtslose Grünflächen

Ein neues Kapitel wird heute etwa in Bachstein aufgetan. Der Dornröschenschlaf ist vorbei. Nach dem Ende des Massentourismus, der kurzfristig den Wechsel von der Vieh- zur Gästehaltung bewirkte, war ja guter Rat teuer gewesen. Gemolken wurden zwar beide, aber die Gewinne schmolzen. Der Erfolg war deshalb nicht überwältigend, da deutsche Touristen das Lebensnotwendige aus Freilassing mitbrachten.

Da hatte die Gemeinde Bachstein am See die Zeichen der Zeit als erste schnell verstanden. Der Weg zum Erfolg war im Grunde recht simpel und dennoch eine großartige Idee: Unter dem Vorwand, den Bachsteinern das Auspendeln ersparen zu wollen, müssen die Wiesen endlich Bauland werden.

Obwohl die Zahl der Einwohner laut Prognose bis 2023 um weitere sechs Prozent sinken wird, braucht die Gemeinde dennoch mehr Platz. Mit dem kühnen Optimismus, Bachstein für Bevölkerungswachstum zu wappnen, sind ab nun die Wiesen, im Bewusstsein der Bachsteiner geschichtslose Grünflächen, dennoch bares Geld. Mit der bescheidenen Freude an blühendem Hahnenfuß, an Hornwicke, Spitzwegerich, falscher Kamille oder Klee ist niemandem gedient.

Der Verkauf von Grund und Boden brachte schon immer Geld ins Haus, ohne nur einen Finger krümmen zu müssen. Die Phäaken wittern seither Morgenluft. Dieses grüne Einerlei, das sich nutzlos bis zum Rand des Höllengebirges erstreckt, ist doch in Wahrheit eine Vergeudung. Soll man derartiges Grünland Kühen überlassen? Sollen Wiesen Rindern freigegeben werden, die auf ihnen ihre ausgiebige Notdurft verrichten? Hatte nicht der große Mediziner Theodor Billroth mit Recht vom Salzkammergut insgesamt als einer "ländlichen Vertrottelung" gesprochen? Und endlich haben sich die Einwohner diesen Vorwurf zu Herzen genommen – zwar spät, aber dann doch.

Allein schon wegen dieser Vergeudungen ist die Änderung der Raumordnung und der Flächenwidmung das Gebot der Stunde. Kaum darf sich ein Grundherr über die Umwidmung zum Bauland freuen, dürfte die lokale Bank über seine weitere Parzelle verfügen. Das gebietet der Optionsvertrag zwischen Gemeinde und Bank.

Es ist eine unerwartete Hilfe, hinter der nur ein Schelm eine Absicht vermutet. Auf dem Land sind die Menschen noch anständig, und im Salzkammergut dreimal. So schnell werden also ein Gemeinderat und dessen Fraktionen zu freiwilligen Mitarbeitern und selbstlosen Helfern der ortsansässigen Bank. Das war wirklich schnell über die Bühne gegangen, weil von der Regie niemand etwas wissen wollte.

Ländliche Schnäppchen

Für die Bank ein Schnäppchen: Für sie gibt's den Quadratmeter um 52 Euro statt der ortsüblichen 400. Den Preis garantiert die Bürgermeisterin persönlich, und bisher stimmten ihr alle kommentarlos zu. Wiesen, auf denen Rinder hausen, sind nicht viel mehr wert. Unter solchen Umständen lässt sich die Bank gern zur Kasse bitten. Im Optionsvertrag mit der Gemeinde ist das alles geregelt. Selbstverständlich hat auch jener Gemeinderat diesem Vertrag zugestimmt, der in leitender Funktion in ebendieser Bank in der Nachbargemeinde tätig ist. So muss er aus seinem Herzen keine Mördergrube machen.

Das hatte einmal Manès Sperber als Verlust privater Rechtschaffenheit bezeichnet. Und damit alles wasserdicht bleibt, gibt's für jede einzelne Wiese einen Optionsvertrag zwischen Gemeinde und Bank. Ein Rindvieh, der dieser Intention widerspricht. Daher war im Gemeinderat keine Gegenstimme zu erwarten.

Dem lokalen Geldinstitut wird zur weiteren Verwertung der Wiesen letztlich freie Hand gewährt werden müssen. Es kann ja sein, dass es über kurz oder lang diese ominösen Jungfamilien gar nicht geben wird, selbst wenn es Mutterkreuz und Parthenogenese wieder geben sollte. Ob das dann auch noch ein Schnäppchen für die künftigen Interessenten in Bachstein ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls winkt der Bank zumindest ein gutes Kreditgeschäft.

Keine Redepause

Das alles könnte man zwischen den Zeilen so lesen, doch die Bürgermeisterin gönnte sich während der Gemeinderatssitzung beim Vortrag aller dieser Ansinnen im Juli keine Redepause – als wäre es das Einpersonenstück Ella von Achternbusch. Es ist die Geschichte einer Frau, die mit ihrer Selbstvernichtung ringt.

Wegen der Umwidmung weiterer Wiesen wird der Traum der Phäaken bald zu Ende gehen. Grundflächen sind nicht beliebig vermehrbar. Das wissen die Bauern. Unter ihnen weiß es zumindest einer ganz genau, der der Ortsbank "niemals nichts" verkaufen wird. Die bereits umgewidmete Wiese wird er verkaufen und kein anderer.

Nun hat das Veto gegen die Vermarktung des Wassers aus dem nahen weißen Bach im Wonnemonat Mai ohnehin schon einen dicken Strich durch alle Hoffnungen auf "arbeitsloses Einkommen" gemacht.

Das darf nicht nochmals passieren. Wegen böser Zungen, räsoniert die Bürgermeisterin, ist das grandiose Projekt den Bach hinuntergegangen und schnöde von Missgunst und Bosheit versenkt worden. Es kann eine Warnung gewesen sein, denn auch in die geplanten Reihensiedlungen wird nach und nach trotz eines erhofften Jungfamilienghettos das "kaputte Leben" einziehen, an dem Ella dann scheitert.

Grünland als Bauland

Jedenfalls unterstützt der Gemeinderat einstimmig trotz bedrohlicher Perspektive die Reihe der Umwidmungen ohne Wortmeldung und Debatte. In Wahrheit müsste der Gemeinderat eigentlich nur die Wiesenfläche um den Ortsfriedhof umwidmen, der wegen der ländlichen Alterspyramide dringend nach einer Erweiterung verlangt.

Vor dieser Dringlichkeit verschließt der Gemeinderat aber seine Augen. Man bleibt unisono dabei, in Bachstein ist Grünland Bauland und nichts sonst. Der Entscheidungshorizont der Ortsgewaltigen ist dem bäuerlichen Sprichwort entlehnt: Ist das Kalb hin, soll auch die Kuh erst recht hin sein. Oder lautet das Sprichwort umgekehrt? Der Gemeinderat hat darüber noch nicht entschieden.

Es zählt, was in Bachstein schon angekündigt ist: Jetzt fließt bald Geld. Und die Phäaken jubeln. Für den Gemeinderat gibt es kein Morgen. Im Häuserlmeer wird die Kirche unsichtbar sein, der Blick zum Höllengebirge verstellt und auf den See vergällt. Trotzdem redet die Bürgermeisterin unverdrossen vom Sonnenhang, von traumhafter Lage und vom künftigen Eigenheim bislang noch unbekannter Jungfamilien.

Nach Statistik Austria werden fürs kommende Jahrzehnt sieben Jungfamilien prognostiziert. Welche Jungfamilien da herhalten müssen, ist noch in weiter Ferne. (Aus jenen 66 Personen, die in Bachstein aus anderen Staaten stammen, wird man sie nicht rekrutieren können.)

Der Abbruchbescheid

Endlich bat eine einzige bescheidene grüne Stimme im Gemeinderat flätig um den Zusatz im "Optionsvertrag": Die Bachsteiner sollten bei Vergabe der Gründe "vorrangig" berücksichtigt werden. Nicht bedacht wird dabei: Wer über so viel Geld für den Erwerb solcher Grundstücke verfügt, ist auf einen solchen Vorrang nicht mehr angewiesen.

Während Kroatien England im Fußball schlug, die Dämmerung das neue Dorfzentrum gnädig verhüllte und der See sich in den Schlaf schaukelte, war die Empörung im Gemeinderat fraktionsübergreifend kaum mehr zu bändigen: Die bewilligte Höhe eines neuen Zaunes war überschritten worden.

Wie ein Donnerwort war der Abbruchbescheid zum Beschluss erhoben. Erst eine grüne Rätin entfachte noch knapp vor Schluss der Sitzung eine ausführlichere Debatte. Ihre Frage hatte einen wesentlichen wie nachhaltigen Inhalt: Wo könne sie in Bachstein am See die Hinterlassenschaften ihres Hundes entsorgen?

Sie finde keine Annahmestelle für diese Exkremente. Da war selbst die Bürgermeisterin überfragt. Es ist für Bachstein am See zu hoffen, dass auch in diesem Fall das örtliche Bankinstitut mit Rat und Tat zur Seite stehen wird. Wenn nicht, versteht man sofort, warum Odysseus das Land der Phäaken bald verließ. (Reinhold Knoll, 4.8.2018)