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Studentinnen der New York University demonstrieren gegen sexualisierte Gewalt.

Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/Drew Angere

Endlich, endlich ist es passiert: ein Sündenfall innerhalb der progressiven Elite. Eine Feministin, der unangemessenes Verhalten gegenüber ihren Studierenden vorgeworfen wird. Und ihre Clique springt ihr gleich zur Seite. Bis in das deutschsprachige Feuilleton ist das Händereiben der Medienabteilungen von Trumps Amerika zu hören.

Aber der Reihe nach: Was ist geschehen? Die angesehene Universitätsprofessorin Avital Ronell sieht sich mit einem sogenannten Title-IX-Verfahren konfrontiert, das bei Beschwerden eingeleitet wird, die von verbalen Übergriffen bis zu Vergewaltigung reichen können.

Weitere Details sind nicht bekannt. Was allerdings aufgrund einer Indiskretion herauskam, ist die Parteinahme für Ronell durch 50 Kolleg*innen in Form eines Briefes. Noch während der Untersuchung wurde die Universitätsleitung von Geistesgrößen wie Judith Butler und Slavoj Žižek aufgefordert, die bekannte Feministin mit "entsprechender Würde" zu behandeln. Zugleich brandmarkt man darin die Klage gegen das angebliche Fehlverhalten der Professorin als "niederträchtige Kampagne".

Gesellschaftliche Überreizung?

Das Ganze ließe sich leichthin als akademischer Klatsch jenseits des Atlantiks abtun, der für die hiesigen Verhältnisse ohne Bedeutung ist. Wäre da nicht der Umstand, dass sich anhand dieses Beispiels zwei zentrale Kritikpunkte an der #MeToo-Bewegung im Speziellen und am Feminismus im Allgemeinen zuspitzen lassen. Da ist zum einen der eigentliche Vorgang: Mit dem Title-IX-Verfahren kommt ein Gesetz aus dem Jahr 1972 zur Anwendung, das dazu geschaffen wurde, Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Hochschulbereichen zu schaffen. Niemand darf, so die Prämisse, am Zugang zu spezifischen Bildungsprogrammen gehindert werden.

Auf sexuelle Belästigung angewandt bedeutet diese Vorgabe nichts anderes, als dass Menschen durch derartige Übergriffe am Studieren gehindert werden. Diese Umdeutung des Title-IX-Verfahrens hat vor einigen Jahren dazu geführt, dass die existierende sexualisierte Gewalt an US-amerikanischen Universitäten überhaupt als Problem identifiziert wurde.

Zugleich wird dadurch einer gesellschaftlichen Überreizung und einer Trivialisierung des tatsächlichen Problems Vorschub geleistet – davon sind mittlerweile auch linksliberale Kräfte überzeugt. Der bereits erwähnte Slavoj Žižek nennt es die "Diktatur der politischen Korrektheit", die dazu führe, dass einer widerständigen Professorin aus ironischen Bemerkungen ein Strick gedreht werden kann, während andere Dozenten vortäuschen können, nach den Regeln zu spielen, obwohl sie ihre Macht missbrauchen und mit ihren Studentinnen schlafen.

Vorwurf der Doppelmoral

Zum anderen ist da der Vorwurf der Doppelmoral, dem sich der Feminismus seit jeher ausgesetzt sieht. Der Rechtsprofessor Brian Leiter, auf dessen Blog der Fall zuerst zusammengetragen wurde, fragt in diesem Zusammenhang, warum es bei einer feministischen Literaturwissenschafterin in Ordnung sein sollte, dem Opfer pauschal keinen Glauben zu schenken und sich reflexartig mit der mutmaßlichen Täterin zu solidarisieren.

Mit anderen Worten: Wer (wie ich zum Beispiel) die Parteinahme im Fall des mittlerweile verurteilten ehemaligen Direktors des Münchner Mozarteums kritisiert, der sollte es hier auch tun. Schriftsteller, Verleger und Philosophen hatten sich damals für ihren Freund und Kollegen Siegfried Mauser ausgesprochen. Von "Verleumdung" war die Rede, von der "Rachsucht zurückgewiesener Frauen" und eben auch von "Würde".

Das einzig mögliche Urteil habe Freispruch zu lauten, befand der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Wegen persönlicher Bekanntschaft, unstrittiger beruflicher Meriten und überhaupt. Bei Avital Ronell werden "jahrelange Zusammenarbeit", ihr "scharfer Verstand" und ihre "internationale Reputation" geltend gemacht, wenn es ihren Fürsprecher*innen darum geht, den erhobenen Anschuldigungen jede Beweiskraft abzusprechen – ohne den genauen Wortlaut der Anschuldigungen überhaupt zu kennen. Das ist dann doch too close to home – wie man im Englischen sagen würde, um einfach zur feministischen Tagesordnung überzugehen.

Ausklammern der Machtfrage

Und genau deshalb sollte die Kritik an der Parteinahme in diesem Fall auch nicht nur antifeministischen Kommentatoren auf der neurechten "Breitbart"-Plattform überlassen werden. Vor Unterstellungen hinsichtlich Denk- und Sprechverboten, Moralkeulen, Internetpranger, Denunzierungen und derlei mehr kann und darf sich Feminismus nicht wegducken. Auch nicht vor dem Verdacht, es ginge ihm weniger um Gleichberechtigung als um geschlechtsspezifische Vorteilnahme unter dem Deckmantel der Geschlechtergerechtigkeit. Und schon gar nicht vor erwiesenen Falschbeschuldigungen. Nur dann kann er glaubhaft vertreten, dass die Unschuldsvermutung nicht gleichbedeutend damit ist, dass mutmaßliche Opfer schweigen müssen. Nur wenn er sich selbst nicht reflexartig aus der Machtfrage ausklammert, ist er in der Lage, sie weiterhin gesellschaftsrelevant zu stellen. (Nils Pickert, 5.8.2018)