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Krise als Dauerzustand: Ein Demonstrant mit Maske trägt sein Kind bei einem der monatelangen Straßenproteste in Bulgarien im Jahr 2013. Damals ging es um Korruption und Intransparenz im Staat. Armut und Perspektivlosigkeit in Bulgarien haben seit der Wende 1989 die Abwanderung der Bevölkerung vorangetrieben, vor allem aber auch den massiven Geburtenrückgang im Land. Mit sieben Millionen Einwohnern ist Bulgariens Bevölkerung heute um 20 Prozent kleiner als beim Ende des Sozialismus.

Reuters / Stoyan Nenov

"Verhalten jenseits menschlicher Normen": Bulgariens Vizepremier Waleri Simeonow ist wegen Hassrede gegen die Minderheit der Roma strafrechtlich verurteilt worden. In der Rechtsregierung in Sofia ist er für Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik zuständig. Politische Stabilität sei die wichtigste Bedingung für den Stopp des Bevölkerungsschwunds, erklärte er zuletzt vage.

AFP / Attila Kisbenedek

Eines Tages sind sie nicht mehr da. Petar Iwanow hat das berechnet. Die bulgarische Gesellschaft schrumpfe mittlerweile jeden Tag um 220 Menschen, so erklärte jüngst der Uni-Psychologe und selbsternannte Bevölkerungswissenschafter. Jede Stunde verschwinden neun Bulgaren. Und im Jahr 2050, so behauptet Petar Iwanow, gebe es dann nur noch Roma im Land. "Zigani" nennt er sie politisch unkorrekt. In Bulgarien ist es die übliche Bezeichnung für die Minderheit der Roma, die eine positive Geburtenrate hat – anders als die ethnischen Bulgaren. Der Rassismus grassiert in dem kleinen Balkanland, bei den Jungen wie bei den Alten, und der Bevölkerungsschwund ist eines seiner Lieblingsthemen.

Doch der Trend stimmt. Bulgarien zählt zu den Ländern mit der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerung auf der Welt. In Europa haben einige Länder einen noch größeren Schwund: die EU-Staaten Lettland und Litauen, Bosnien und Kosovo, die Kaukasusländer Georgien und Armenien sowie die Ukraine. Allerdings in erster Linie durch Abwanderung, nicht wegen der negativen Geburtenrate.

In Bulgarien aber ist seit dem Zusammenbruch des Kommunismus rund ein Fünftel der Bevölkerung verschwunden. 8,8 Millionen Einwohner zählte das Balkanland im Wendejahr 1989, knapp sieben Millionen sind es heute. Erst war es die Massenabwanderung in den Westen nach der Wende. Dann aber hat sich die Statistik nie wieder eingependelt. In Bulgarien werden einfach zu wenig Kinder geboren. Noch sehr viel weniger als im Westen, und dies bei praktisch null Einwanderung, sieht man ab von russischen Immobilienbesitzern und Flüchtlingen auf dem weiteren Weg in den Norden Europas.

Bulgariens offizielle Zahlen ermittelt das Nationale Statistikamt (NSI) in Sofia. Es unterscheidet bewusst nicht zwischen Mehrheit und Minderheiten im Land. 2017 gab es in Bulgarien 1029 Geburten weniger als im Vorjahr, aber gleichzeitig 2211 mehr Todesfälle, so meldet die Behörde. Ihre neue Projektion sagt einen Rückgang der Bevölkerung auf unter sieben Millionen im Jahr 2020 voraus. Bis 2045 wird Bulgarien eine weitere Million Menschen verloren haben; die größte Bevölkerungsgruppe werden dann die 60- bis 80-Jährigen sein. Und 2080 leben nach der Rechnung des NSI nur noch 4,8 Millionen im Land – nochmals ein Drittel weniger als jetzt.

Die Entvölkerung lässt sich jetzt schon im besonders armen Nordwesten Bulgariens beobachten. Ganze Dörfer stehen dort leer, viele junge Leute sind aus den Provinzstädten weg nach Sofia oder gleich ins Ausland übersiedelt. Wer geblieben ist und sogar Arbeit gefunden hat, denkt nicht unbedingt als Nächstes ans Gründen einer Familie. "Im Allgemeinen möchte ich keine Kinder", sagt Iwo Iwanow, ein 25-jähriger Mann aus Mesdra, einer Kleinstadt eineinhalb Fahrtstunden nördlich von Sofia. Seine Freundin sieht das ähnlich.

560 Euro Durchschnittsgehalt

Der Aufstieg im Beruf stehe für sie an erster Stelle, sagt Gloria Krusteva. Sie ist erst 23, bedient wie ihr Freund Iwo Maschinen in einer Fabrik für elektronische Bauteile in Mesdra und studiert dazu noch in der Hauptstadt Verwaltungslehre. "Karriere machen, Wohnung kaufen und vielleicht dann ein Kind, aber nicht mehr", so reiht Iwo sein künftiges Leben auf. "Ich kann nicht mehr als für ein Kind sorgen", das weiß er schon. Gloria kann sich auch gut zwei Kinder vorstellen. Später einmal. Wenn die materielle Basis da ist, die eigene Wohnung und ein festes Einkommen. Es wird in aller Regel ein bescheidenes Leben. Bulgarien hat mit umgerechnet 261 Euro im Monat das niedrigste Mindestgehalt in der EU; durchschnittlich verdienen Bulgaren, die Arbeit haben, 560 Euro im Monat.

Die soziale Dauerkrise ist nach Einschätzung von Bevölkerungswissenschaftern der maßgebliche Grund für den Geburtenrückgang in Bulgarien. Das Land ist seit der Wende zur Marktwirtschaft und seit dem EU-Beitritt 2007 unterm Strich ärmer geworden, nicht wohlhabender. 40,4 Prozent der Bevölkerung waren nach den jüngsten, im Mai dieses Jahres veröffentlichten Zahlen von Eurostat aus dem Jahr 2016 unterhalb der Armutsgrenze oder von Armut und sozialem Ausschluss bedroht. Reich wurde dagegen in Bulgarien vor allem, wer skrupellos genug vorging bei der Privatisierung und später bei der Vergabe der ersten Fonds aus Brüssel für Infrastruktur- und Wirtschaftsprojekte.

"Ich vertraue diesem Staat und den Staatsinstitutionen nicht", erklärt Iwana Iwanowa, eine 24 Jahre alte Bulgarin. Für die Gründung einer eigenen Familie sei das aber unwichtig, so sagt die junge Frau abgeklärt. Von ihrem Staat erwartet sie sich ohnehin nichts. Der Bruch mit der Generation der Eltern und Großeltern, die im Sozialismus lebten, könnte nicht größer sein. Iwana geht aus Prinzip zu Privatärzten, jobbt in einem Privatunternehmen, hat ein zweites Wirtschaftsstudium begonnen. Sie wohnt mit ihrem Freund zusammen in Sofia – in der Wohnung der Großmutter, und die alte Dame ist auch mit dabei. Ein Baby zu haben ist unter solchen Umständen nur ein Projekt für die Zukunft. Und sicher nichts, worauf die Politiker im Balkanland schon bauen könnten.

Rechtsnationalist als Politikmacher

Die sind sich inzwischen des Dramas mit dem Bevölkerungsschwund bewusst. Ein "nationales Sicherheitsrisiko" nennt es die Opposition im Parlament. Der konservative, seit 2017 mit rechtsgerichteten Parteien regierende Ministerpräsident Boiko Borissow betraute erstmals einen stellvertretenden Regierungschef mit dem Aufgabengebiet Bevölkerungspolitik.

Dass ausgerechnet der Rechtsnationalist Waleri Simeonow von dem Parteibündnis Patriotische Front für diesen Bereich zuständig ist, empfinden zumindest manche im Parlament als Zynismus. Simeonow ist im vergangenen Jahr wegen einer Hassrede gerichtlich verurteilt worden. Er hatte die Roma in einer Parlamentsrede unter anderem eine "Zigeuner-Ethnie" genannt mit einem "Verhalten jenseits menschlicher Normen"; Kinderkriegen würden sie als "lukratives Geschäft" auf Staatskosten betrachten.

Reich wird man als Elternteil allerdings auch in Bulgarien nicht. Einen eher symbolischen Beitrag von umgerechnet 20,44 Euro zahlt der Staat als monatliches Kindergeld, und auch dies nur Geringverdienenden. 90 Prozent des Gehalts erhalten Mütter aber im ersten Jahr ihrer Elternzeit. Wie die Rechtsregierung den Rückgang der Bevölkerung aufhalten will, ist bisher gleichwohl nicht deutlich geworden. Sie steckt in ihrem Dilemma von strenger Fiskalpolitik und Ablehnung der Roma-Minderheit, die sie nicht offen äußern kann.

Manche Bulgaren kümmert das alles glücklicherweise nicht. Sie schaffen es auch ohne ihre Politiker. Ewdokia Ilkowa ist mit 32 Mutter geworden, nach zehn Jahren im Berufsleben, nicht viel anders als Frauen im Westen Europas. "Ich habe die richtige Person gefunden", sagt die Buchhalterin über ihren Partner, "und wir haben beide einen sicheren Job". Mehr als ein Kind traut sie sich aber nicht zu. Auch Ewdokia kann Bulgariens Bevölkerungskurve nicht mehr nach oben biegen. (Markus Bernath, Sofi Tswetkowa, Daniela Yeoh, 06.08.2018)