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Vergangene Woche war Theresa May noch in Österreich, jetzt wirbt sie bei Frankreichs Präsident Macron um Entgegenkommen.

Foto: AP/Kerstin Joensson

In offenbar koordinierter Weise warnen britische Unternehmen und Wirtschaftsverbände vor einem Chaos-Brexit und drängen die politischen Verhandlungspartner zu Kompromissen. So rasch wie möglich müssten London und Brüssel die geplante Übergangsphase bis Ende 2020 juristisch absichern, fordert Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI. Andernfalls drohten weitere Abwanderung und Investitionsstopps.

Von der britischen Regierung unter Premierministerin Theresa May wünscht sich die Wirtschaft weiterhin privilegierte Beschäftigungsmöglichkeiten für EU-Bürger, von Brüssel sei "mehr Flexibilität" gefordert. In Vorbereitung des EU-Gipfels in Salzburg trifft May am Freitag mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron zusammen.

Beim Treffen an Macrons Urlaubsort Fort de Brégançon an der Côte d'Azur werde die Regierungschefin für einen zukünftigen engen Assoziationsstatus Großbritanniens mit der EU werben, heißt es in London. Frankreich gilt in Mays Team als härtester Gegner einer maßgeschneiderten Lösung für das EU-Austrittsland; hingegen kehrte die Premierministerin von einem kürzlichen Berlin-Besuch bei Angela Merkel mit der Zuversicht zurück, Deutschland sei an einem Kompromiss interessiert. Beim Salzburger Gipfel möchte die Engländerin über die Köpfe der Kommission hinweg bei den Staats- und Parteichefs für einen Brexit-Kompromiss werben.

Brexit ohne Chaos

Die Wirtschaftsvertreter scheinen Bedenken gegen das im Juli vorgestellte Weißbuch der Regierung zurückstellen zu wollen, um in den nächsten Wochen vor allem einen Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung zu verhindern. Dieser wäre katastrophal für beide Seiten, beteuert Mike Hawes von der Autolobby SMMT: "Wir brauchen eine Vereinbarung, sonst gibt es keine Übergangsperiode." Sollte Großbritannien nach dem geplanten Austritt in knapp acht Monaten auf die Regeln der Welthandelsorganisation WTO zurückgeworfen werden, hätte dies "erhebliche Zusatzkosten".

Hawes' Branche beschäftigt direkt und indirekt mehr als eine Million Menschen und exportiert über 80 Prozent ihrer Produkte, davon mehr als die Hälfte in die EU. Umgekehrt kaufen britische Autofahrer zwei Drittel ihrer Neuwagen vom Kontinent, weshalb auch die 27 EU-Partner an einer Lösung interessiert sein sollten. "Jegliche Störung riskiert einen Schaden an einem unserer wichtigsten Wirtschaftssektoren."

Kreative Lösung gesucht

Ins gleiche Horn stößt industrie-übergreifend CBI-Chefin Fairbairn. Bei einem Roundtable mit ausländischen Korrespondenten warnte die Managerin diese Woche wiederholt vor negativen Folgen für die gesamte europäische Wirtschaft, falls kein Kompromiss gelinge. Das Weißbuch stehe für einen deutlich weicheren Brexit-Kurs, als ihn die May-Regierung noch vor eineinhalb Jahren vertreten habe. Dazu habe die britische Wirtschaft hinter den Kulissen beigetragen. "Jetzt ist die EU am Zug."

Ausdrücklich wünscht sich Fairbairn eine kreative Lösung, die auf das Brexit-Land zugeschnitten ist. Schließlich gehe es um die Verbindung zur siebtgrößten Industriemacht der Welt. "Da ist das Gerede vom Rosinenpicken nicht sonderlich hilfreich."

So tapfer Fairbairn das Weißbuch der Regierung lobt – zwischen den Zeilen wird immer wieder deutlich, dass die Wirtschaftslobbyistin sich eine deutlich engere Anbindung an die EU vorstellt, als dies in dem 98-seitigen Dokument vorgeschlagen wird. So hat der CBI stets den Verbleib Großbritanniens in der Zollunion vertreten. "Das halten wir auch nach wie vor für das Beste, falls keine vergleichbare Alternative besteht." Das Sonderproblem Nordirland aber durch eine Zollunion der britischen Provinz mit der Republik im Süden zu lösen komme weder politisch noch ökonomisch infrage, glaubt Fairbairn.

Weißbuch sei "echter Tiefschlag"

Der Zugang der wichtigen Finanzbranche zum EU-Markt sei noch verbesserungsbedürftig, finden Vertreter des Finanzzentrums City of London, die das Weißbuch als "echten Tiefschlag" kritisierten. Zwar habe die Regierung mittlerweile akzeptiert, dass sie beim Handel mit Gütern die EU-Regeln übernehmen muss, analysiert Fairbairn. Für Finanzdienstleistungen könne dies aber nicht gelten, zumal der Binnenmarkt für Dienstleistungen deutlich weniger entwickelt sei.

Auf die Frage des STANDARD, wonach die Wirtschaftsverbände mit ihrer öffentlichen Lobby-Arbeit reichlich spät dran seien, reagiert Fairbairn energisch: "Wir haben uns schon im Referendumskampf lautstark zu Wort gemeldet. Aber es war und ist eine sehr komplexe und vergiftete Debatte."

Dieser Tage machen Unternehmen und Kommunen den Briten drastisch deutlich, welche Folgen der sogenannte No-Deal-Brexit hätte. So erwartet die Verwaltung der Grafschaft Kent, dass sich binnen weniger Tage nach dem Austrittsdatum Tausende von Lastwagen beiderseits der Kanalhäfen stauen würden. Andere Bezirksämter sorgen sich wegen Krawallen, die vergangene Woche auch der britische Amazon-Chef Douglas Gurr vorhergesagt hat. Unternehmen wie Pharmagigant Sanofi und der weltweit tätige Turbinenbauer Rolls-Royce (RR) planen inzwischen eine "lästige und teure Vorratshaltung", so RR-Chef Warren East. (Sebastian Borger aus London, 1.8.2018)