Stellt seine Funktion als künstlerischer Leiter der Festspiele Erl ruhend: Gustav Kuhn.

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Erl – Für sein Dirigat des viertägigen "Ring des Nibelungen" wurde Gustav Kuhn am Sonntag bei den Tiroler Festspielen in Erl mit stehenden Ovationen bedacht. Ungewöhnlich viel Sendezeit gab es für den fast 30-jährigen Klassik-Event auch am Montagabend in der "ZiB 2". Bei Armin Wolf nahm jedoch nicht der Maestro Platz, sondern sein Anwalt Michael Krüger. Der ehemalige Justizminister musste ausrücken, um den 72-jährigen Festspielgründer und Intendanten an einem unangenehmen Nebenschauplatz zu verteidigen.

Seit dem Frühjahr gibt es gegen Gustav Kuhn Vorwürfe wegen sexueller Belästigung und Machtmissbrauchs, zunächst anonym geäußert, seit letztem Donnerstag auch namentlich: Fünf ehemals in Erl beschäftigte Künstlerinnen wandten sich in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit, in dem sie sich als "Betroffene, Zeuginnen oder Mitwissende" deklarierten. Kuhn werfen sie u. a. Verfehlungen wie "unerwünschte Küsse auf Mund oder Brust", "Begrapschen unter dem Pullover" oder "Griff zwischen die Beine" vor.

Rückzug, "um Schaden abzuwenden"

Obwohl Kuhn die Vorwürfe bestreitet, zog er am Dienstag Konsequenzen: "Um Schaden von den Festspielen abzuwenden", wie es hieß, stelle er seine Funktion als künstlerischer Leiter der Festspiele "bis zur vollständigen Klärung mit sofortiger Wirkung ruhend". Mit der interimistischen Leitung werde sein bisheriger Stellvertreter Andreas Leisner betraut.

Der Entscheidung war eine Krisensitzung des Stiftungsvorstands in Wien vorausgegangen, der sich aus den drei wichtigsten Geldgebern der Festspiele zusammensetzt: Mäzen und Festspielpräsident Hans Peter Haselsteiner, Kultursektionschef Jürgen Meindl als Vertreter des Bundes und die Tiroler ÖVP-Landesrätin Beate Palfrader. Das Land Tirol finanziert die Festspiele jährlich mit 1,15 Millionen Euro, der Bund steuert 500.000 Euro bei.

Eine Rückkehr von Gustav Kuhn (sein Vertrag läuft bis 2020) wollte Hans Peter Haselsteiner nicht ausschließen. Das hänge von den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ab, aber auch von der Gleichbehandlungskommission im Bundeskanzleramt, die die Geschäftsführung der Festspiele nun anrufen werde.

"Diese Kommission wird dann ein Gutachten erstellen. Und nur wenn diese darin zu dem Schluss kommt, dass die Vorwürfe zu Unrecht bestehen oder nicht ausreichend begründbar sind, kann Kuhn zurückkehren", erklärte Haselsteiner. Parallel dürfte es natürlich auch zu keiner strafrechtlichen Anklage kommen.

Schwierige "Beweislastumkehr"

Da vor der Gleichbehandlungskommission die Beweislastumkehr gelte, stelle dies für den "Maestro" eine "große Erschwernis" dar. "Bedauerlicherweise muss man offenbar den Unschuldsnachweis erbringen. Aber das ist nun einmal so in unserer Mediengesellschaft", so Haselsteiner, der mehrfach betonte, dass für Kuhn die Unschuldsvermutung gilt.

Julia Oesch, eine der Künstlerinnen, die Gustav Kuhn in einem Vorfall aus dem Jahr 1999 belastet, meinte zum STANDARD, die Vorwürfe seien "nur die Spitze des Eisbergs", man wisse von mehr, und sie wolle Betroffenen Mut machen, sich ebenfalls öffentlich zu äußern.

"Man schämte sich dafür, dass man so angreifbar war", begründete Oesch die Tatsache, dass man jahrelang über die angeblichen Übergriffe geschwiegen hatte. "Ich möchte aber nicht Rache nehmen und mich auf dieselbe Ebene wie Gustav Kuhn begeben. Das Schlimmste war für mich nämlich der Machtmissbrauch." Wer nicht mitspielte, sei auf der künstlerischen Ebene bestraft worden.

"Ich dachte: Okay, in diesem Business muss ich offenbar mit allem rechnen. Zum Glück ist mir danach so etwas aber nie mehr passiert. Auch deswegen, weil ich mich später derartigen Situationen frühzeitig entziehen konnte." Mit Mitte zwanzig sei das aber schwieriger als mit Mitte vierzig, so Oesch. (Stefan Weiss, 31.7.2018)