Wien – Vierzig Tänzer stehen aufgereiht nebeneinander und starren in dieselbe Richtung. Kaum einer blinzelt. Michael Mattner ist einer davon. Seine beiden Hände gleiten entlang seiner Beine langsam von unten nach oben. Musik mit stampfendem Bass setzt ein.

Der 62-Jährige spreizt seine Handflächen. Plötzlich kippt sein Oberkörper nach links unten. Einen Augenblick später richtet er sich nach rechts hin wieder auf, um im nächsten Moment auf den Boden zu fallen und sich in Embryo-Position zusammenzurollen. Mit dem Turniertanz, den der ehemalige Finanzchef eines Unternehmens in jüngeren Jahren gemeinsam mit seiner Frau betrieb, haben diese Übungen wenig zu tun. Aber Joe Alegados Workshop "StartUp Modern" ist genau das, was Mattner sucht – und beim Impulstanz-Festival im Wiener Arsenal findet.

Untertags in den Workshops schwitzen ...
Foto: Regine Hendrich

Hupferei durch den Gemüsegarten

"Die Atmosphäre hier ist einzigartig", sagt er, als er sich nach fast zwei Stunden Schwitzen seine Sporttasche schnappt und aus den Probebühnen des Burgtheaters, die sich das Festival über den Sommer ausborgt, ins Freie tritt. Teilnehmer aus verschiedenen Workshops machen hier auf Couchen und Liegestühlen Pause, dahinter planschen Kleinkinder in zwei Minipools.

Seiner Frau, die das Impulstanz-Festival bereits von dessen Beginn an besucht, kaufte Mattner anfangs die Euphorie nicht ganz ab. "Du mit deiner Hupferei", habe er immer zu ihr gesagt. Mittlerweile testet Mattner sich selbst "quer durch den Gemüsegarten": Von klassischen Varianten über Jazz bis Hip-Hop ist heuer alles dabei.

... anschließend in kleinen Pools planschen und auf dem Gelände des Wiener Arsenals abhängen ...
Foto: Regine Hendrich

Wenn Wien in den vergangenen Jahren den Ruf einer hippen Szenestadt erworben hat, dann hat das Impulstanz-Festival viel dazu beigetragen. Tausende strömen im Hochsommer nach Wien, um einen der Workshops zu besuchen, um ihre Tanzkünste zu perfektionieren oder ihre ersten Schritte auf dem glatten Boden zu machen. Hier wird seit drei Jahrzehnten eine zeitgenössische Tanzkultur gepflegt, die von den Walzerschritten auf den traditionellen Wiener Bällen Lichtjahre entfernt ist.

Die Mehrheit der rund 6000 Teilnehmer ist jung, weiblich und urban, aber das Festival zieht Menschen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten an – so auch Männer wie Mattner, der sich in den letzten Jahren zum Dauergast mauserte.

... bevor man sich noch einmal, zum Beispiel an der Stange, verausgabt ...
Foto: Regine Hendrich

Beim Poledancing pickengeblieben

Typischer ist Michelle Stripes, die in ihrem Workshop mit beiden Händen eine Stange umklammert. Die 24-jährige Jusstudentin zieht sich an ihr hoch, lässt ihren Oberkörper auf die eine Seite und ihre Füße auf die andere fallen. Dann gleitet sie in Kreisbewegungen wieder hinunter. Neben ihr rutschen viele an ihren Stangen ab und landen unsanft auf dem Hintern.

Aber Stripes, die sich gerne mit ihrem Poledance-Namen in der Zeitung lesen möchte, tanzt schon länger. Das erste Mal kam sie mit ihrer Mama zu einer Schnupperstunde im Poledancing. "Sie hat nach der ersten Einheit aufgegeben", sagt Stripes und lacht. "Aber ich bin pickengeblieben." Heuer hat sie gleich für alle vier Wochen Workshops gebucht. "Ich fahre nicht weg, ich mache Impulstanz-Urlaub", sagt sie.

Was für die einen Urlaub ist, ist für die anderen auch Arbeit: 250 Workshops für Fortgeschrittene und Beginner werden heuer noch bis 12. August angeboten. Drei Wochen lang leitet etwa Joe Alegado zwei Kurse täglich. Mit seinem eigenen Tanzstil ist Alegado einer der international renommiertesten Tänzer, die beim Festival unterrichten. Und er ist seit Beginn mit an Bord. "Ich komme gerne hierher, weil ich die familiäre Atmosphäre schätze", sagt Alegado, der derzeit in Texas wohnt.

... um anschließend zur Party ins Burgtheater zu radeln ...
Foto: Regine Hendrich

Mit dem Rad zur Party

Eine andere ist Nina Kripas, die hier seit zehn Jahren Hip-Hop unterrichtet. "As we enter / Come now we take you on the biggest adventure", schmettert Damian Marley durch die großen Boxen in die Halle. Kripas wählt die Musik für ihren Kurs bewusst aus: Neben dem Tanz soll auch "ein bissl Flavour" vermittelt werden. Kripas, die bereits auf einer Bühne mit Kanye West und den Black Eyed Peas stand, unterrichtet seit zehn Jahren. Davor war sie selbst Teilnehmerin – und das schon mit 15. Damals lernte sie als Ballettschülerin beim Impulstanz-Festival die Welt des Hip-Hop kennen.

Kripas liebt den Austausch mit anderen Tänzern, auch aus ganz anderen Stilrichtungen und aus vielen verschiedenen Kulturen. 94 verschiedene Nationalitäten sind laut den Organisatoren vertreten. Österreichische und internationale Teilnehmer halten sich dabei ziemlich die Waage.

Viele von ihnen werden nach dem Workshoptag im Wiener Arsenal mit einem der vielen pinken Impuls-Fahrräder zu einer der Performances radeln. Dann geht es weiter zum Burgtheater: In den Räumen des Vestibüls wird jeden Abend in der "Festival Lounge" noch gefeiert. Der Eingang dort ist in helles Rot getaucht. Hier trifft man einander wieder und tauscht die Trinkflasche mit Wasser gegen Bier und Longdrinks. Und hier stößt man auch auf ebenso junge und hippe Gäste, die zwar gerne tanzen, aber ohne Anleitung. Mit der Partyschiene hat sich das Festival seit 2005 Zugang zu Publikum abseits der Workshop-Teilnehmer verschafft.

... und die Trinkflasche mit Wasser gegen ein Bier zu tauschen.
Foto: Regine Hendrich

"Don’t be so quick to walk away / Dance with me", trällert Justin Timberlake durch den in blau getunkten Tanzsaal im Vestibül. Jedes Jahr besucht Franziska Rosenberger Impulstanz-Partys: "In so einer Location zu feiern ist einfach was Besonderes", sagt die 29-Jährige und deutet auf die Marmorsäulen und den Stuck an der Decke.

Hier sei das Publikum zwar teilweise schon "ziemlich gestriegelt". Aber durch die internationalen Gäste entstehe eine Atmosphäre, die zulasse, dass auch "mancher Wiener seinen Stock aus dem Arsch kriegt". Und wenn die Party nach Mitternacht an Fahrt aufnimmt, könnte man einen Augenblick glauben, dass Wien eine echte Weltstadt ist. (Vanessa Gaigg, 29.7.2018)