Es war eine Weltmeisterschaft der Überraschungen: Sicher zählte Frankreich schon vor dem Turnier zu den Favoriten, Kroatien als zweiten Finalisten hatten hingegen die wenigsten Fachleute und Fans auf dem Zettel. Das Ausscheiden des amtierenden Weltmeisters Deutschland schon in der Vorrunde darf getrost als Sensation gewertet werden, das Scheitern der Spanier und Argentinier im Achtelfinale und der Brasilianer im Viertelfinale zumindest als unerwartet. Überraschend souverän hat aber Russland während der WM agiert – nicht nur auf dem Feld, sondern auch als Organisator.

Radaubrüder unter Kontrolle

Sicherheitsbefürchtungen, hervorgerufen durch Gewaltexzesse russischer Hooligans vor zwei Jahren bei der Europameisterschaft in Frankreich, erwiesen sich ebenso als unbegründet: Daheim waren die Radaubrüder bestens unter Kontrolle. Zugegeben: Dieser Punkt ist für Russland-Kenner nicht überraschend. Dass Geheimdienste und Sicherheitsorgane in Moskau nicht nur gigantische Ausmaße haben, sondern im Einsatzfall auch effizient funktionieren, ist bekannt. Dass die Silowiki aber nicht nur wachsam, sondern auch freundlich und auskunftsbereit sein können, ist bemerkenswert. "Die Polizei, dein Freund und Helfer", daran könnten sich die Menschen in Russland, egal ob Einheimische oder Ausländer, gewöhnen.

Überhaupt war die freundliche Atmosphäre überraschend, mit der Ausländer in Russland aufgenommen wurden. Die aggressive nationalistische Rhetorik im TV in den vergangenen Jahren ließ nicht unbedingt darauf schließen, doch glücklicherweise wurde sie vor der WM zurückgefahren. Die Russen zeigten sich als hervorragende Gastgeber und begeisterte Fußballfans – warmherzig, offen und unvoreingenommen. Und sie zeigten Gefallen an der neuen Offenheit, zeigten Interesse an neuen Freundschaften und Beziehungen.

Überwindung der Isolierung

Die WM ist damit eine große Chance für Russland: Aus sportlicher Sicht kann sich der Fußball im Land aus seinem Nischendasein befreien und dafür die zusätzliche Infrastruktur nützen. Darüber hinaus kann die WM der Anfang zur Überwindung von Isolierung und Entfremdung seit der Ukraine-Krise sein.

Nicht unbedingt auf politischer Ebene: Natürlich hat der Kreml durch die reibungslose Durchführung der WM einen Imagegewinn erzielt, doch gerade für Moskau sind die Ergebnisse nicht eindeutig: Einerseits wurde das Nationalgefühl durch die unerwarteten Erfolge der Sbornaja gestärkt, andererseits misslang der Versuch, mit der WM von der unpopulären Rentenreform abzulenken.

Außenpolitisch hat sich Kreml-Chef Wladimir Putin beim Shakehands mit anderen Staatsführern in den Stadien ohnehin erstaunlich zurückgehalten. Dass die WM Moskau künftig politische Verhandlungen erleichtern wird, ist unwahrscheinlich. Wichtiger ist jedoch, dass auf persönlicher Ebene Menschen aus Russland und dem Westen zueinandergefunden haben und beiderseits bestehende Vorurteile abbauen konnten.

Konservativen Kräften in Russland mag diese Integration zu weit gehen; so warnte eine Duma-Abgeordnete Russinnen explizit vor "Sex mit Ausländern". Der Abbau von Feindbildern – sei es im Bett oder beim Bier an der Bar – ist jedoch, mehr noch als die hinterlassene Infrastruktur, das wichtigste Erbe dieser Weltmeisterschaft. (André Ballin, 14.7.2018)