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Nachdenkpause für Deutschlands Bundestrainer Jogi Löw.

Foto: REUTERS/Michael Dalder

München – Joachim Löw lässt sich Zeit. Deutschlands Bundestrainer will nach dem niederschmetternden WM-Desaster "zunächst einmal zur Ruhe kommen", wie Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff sagte, "alles einordnen, neu sortieren".

Es gibt ja so viele Themen. Mesut Özil und die Erdogan-Affäre. Der Neuaufbau des DFB-Teams. Die Umgestaltung seines Trainerstabes. "Ich weiß, er wird alles hinterfragen", sagte Bierhoff, "auch unseren Spielstil".

Ballbesitzfußball am Ende

Wenn Löw und Bierhoff am 24. August mit ihrer großen WM-Analyse beim Präsidium des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) antreten, sollte der taktischen Neuausrichtung eine zentrale Rolle zukommen. Der reine Ballbesitzfußball, das hat die WM in Russland gezeigt, ist am Ende.

Mannschaften, die diesen Stil für "das allein Glückseligmachende" hielten, seien abgestraft worden, sagte Leipzigs Trainer Ralf Rangnick: "Ohne Tempo, ohne Hochschalten in den sechsten, siebten Gang gewinnst du heute nicht einmal gegen Panama oder Südkorea." Wie die DFB-Elf – eines der Teams, die sich laut Rangnick am Ballbesitz "so lange ergötzt" haben, bis sie plötzlich ausgeschieden waren.

Tiki-Taka am Ende

Diese Erkenntnis ist sogar in Spanien, dem Mutterland dieser Spielidee, angekommen. Dort hat Verbandspräsident Luis Rubiales dem neuen Coach Luis Enrique den klaren Auftrag gegeben, der "Roten Furie" das Tiki-Taka auszutreiben und den Ballbesitz wie einst beim FC Barcelona durch Vertikalität zukunftsfähig zu machen.

Was das konkret bedeutet, erläuterte der neue Bayern-Coach Niko Kovac. "Ohne Geschwindigkeit bringt Ballbesitz heutzutage nicht mehr viel", sagte er. Das weite Aufrücken im Zuge endloser Kombinationen berge zudem die Gefahr, ausgekontert zu werden – wie es der deutschen Mannschaft so oft widerfuhr.

Neuer Trend

Das Gegenmittel? "Früher hieß es, die Großen fressen die Kleinen. Heute heißt es: Die Schnellen fressen die Langsamen", sagte Kovac: "Der Trend geht eindeutig in Richtung Spieler, die die Fähigkeiten eines Sprinters mit denen eines Jongleurs kombinieren."

Und das sind oft junge Kicker. Mit England und Frankreich standen zwei der drei jüngsten Teams der WM im Halbfinale. Löws Kader war zwar der sechstjüngste, in der Startelf aber setzte er fast durchweg auf Routine. Er muss verjüngen – und dynamischere Spielertypen einbauen, die schnelles Umschaltspiel beherrschen.

Dribbler wie Leroy Sane

"Diese Dribbler, diese Individualisten, die mit ihren Einzelaktionen Überzahl schaffen und Abwehrreihen aufreißen, braucht der Fußball wieder", sagte Ottmar Hitzfeld: "Ein Leroy Sane hätte der deutschen Mannschaft gut getan." Ohne den Shootingstar habe es "keinen Spaß" gemacht, dem Weltmeister zuzuschauen.

Bierhoff sieht den "gesamten deutschen Fußball, Verband und Vereine" in der Pflicht, derartige Spieler wieder häufiger zu entwickeln. Löws Mannschaft werde aber bereits am 6. September gegen Frankreich "ein neues Gesicht bekommen und zeigen".

Kritikpunkte

Das ist nach einer ersten, internen Analyse auch dringend notwendig. Bierhoff ließ nach der WM-Pleite DFB-Mitarbeiter nach den Gründen befragen. Die Kritikpunkte laut Frankfurter Rundschau: Ich-Bezogenheit der Stars, fehlender Teamgeist, versagende flache Hierarchien, Frust im Funktionsteam. Dieses soll verkleinert und wieder schlagkräftiger gemacht werden – und dann dabei helfen, auch den Spielstil zu ändern.

Eine Revolution ist dabei gleichwohl nicht zu erwarten. Deutschland sei in Russland auch deshalb gescheitert, weil es seinen eigenen Stil verraten habe, glaubt Bierhoff. "Unser Spiel lebt von Schnelligkeit, Dynamik, davon, Wege in die Tiefe zu gehen. Wir haben aber den Ball in den Fuß gefordert", sagte er. (sid, 12.7.2018)