Ian McGuire, "Nordwasser". Übersetzt v. Joachim Körber. € 22,70 / 304 Seiten. Mare, Hamburg 2018

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Mitte des 19. Jahrhunderts brachen für Walfänger bekanntlich schwere Zeiten an. Billigeres und effizienteres Petroleum, Paraffin oder Gas begannen als industrielle Produkte nicht nur den Waltran als Grundlage für künstliche Beleuchtung zu ersetzen. Auch waren die Weltmeere zunehmend leergefischt. Man musste immer weitere und gefährlichere Seewege auf sich nehmen, um die Tiere aufzuspüren und zu jagen.

Der britische Autor Ian McGuire entdeckt in seinem im Jahr 1859 spielenden Roman Nordwasser für die Walfangbetreiber deshalb sehr moderne neue Geschäftsideen. Captain Brownlee und sein Schiff, die Volunteer, werden vom britischen Lerwick aus nur vordergründig losgeschickt, um Wale zu fangen.

Irgendwo oben in den Weiten der arktischen See soll der Walfänger zu Winterbeginn im aufziehenden Packeis Schiffbruch begehen. Die Besatzung soll, falls unbedingt nötig, von einem "zufällig" in der Nähe befindlichen zweiten Schiff der Firma gerettet werden. Die fällige Versicherung für das gesunkene Schiff verspricht mehr Gewinn als das unsichere Fangergebnis.

Sehr wahrscheinlich nahm sich Ian McGuire für Nordwasser nicht nur die Lucona-Affäre um Udo Proksch als Vorbild. Mit Sicherheit fanden dabei auch bestens bekannte literarische und historische Stoffe Eingang in diesen Roman. Von Moby Dick einmal abgesehen: Nachdem die Volunteer im Packeis endlich zum Sinken gebracht worden ist, geht im Nordwasser so gut wie alles anders als geplant weiter. Das rettende zweite Schiff ist verschwunden. Der Kapitän der Volunteer ist tot, weil umgebracht. Und unter der Besatzung macht sich nicht nur Entsetzen breit.

Wahnsinn durch Bleivergiftung

Es beginnt auch ein Krieg unter den Männern, wie man ihn zuletzt etwa in der Netflix-Serie The Terror sah. Sie beruht auf der wahren Geschichte des unglückseligen Kapitäns Sir John Franklin und seiner Suche nach der Nordwestpassage mit den Schiffen Erebus und Terror in den Jahren 1845 bis 1848. Erst in den 1980er-Jahren fand man Überreste dieser wahnwitzigen Unternehmung im ewigen Eis. Sie künden von Wahnsinn durch Bleivergiftung durch Nahrung aus Konservendosen sowie Kannibalismus.

McGuire erzählt diese Reise ins Nirgendwo wuchtig, ganz im Stile der historischen Vorlagen. Er webt in den Plot auch noch einen alttestamentarischen Kampf zweier Männer an Bord ein, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Zum einen wäre da der Harpunier Henry Drax, ein brutaler Pädophiler, der über Leichen geht und keine Moral kennt.

Zum anderen ist Schiffsarzt Patrick Sumner mit an Bord, ein Mann, der als Militärarzt in Indien aus Geldgier große Schuld auf sich geladen hat und deswegen unehrenhaft aus der britischen Armee entlassen wurde. Zeitlebens traumatisiert und süchtig nach Opium ist er sowieso. Bevor das Schiff sinkt, geschehen Morde. Ausgesetzt auf dem Packeis, folgt schließlich überhaupt eine nach Verfilmung schreiende Reise nach Rom. Ein Überlebenskampf, der unter die Haut geht. (Christian Schachinger, 10.7.2018)