Experte für Abgründiges: David Lynch fragte einen Schauspieler schon einmal, ob er sich ein Loch in die Wange schneiden würde.

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David Lynch, Kristine McKenna, "Traumwelten". € 25,70, 766 Seiten. Heyne-Verlag, München 2018

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Donald Trump liest gerne Positives über Donald Trump. Als David Lynch in einem Guardian-Interview unlängst in Aussicht stellte, dass aus dem chaotischen US-Präsidenten am Ende doch noch einer der ganz Großen werden könnte, erfuhr dieses Statement deshalb die zweifelhafte Ehre eines Trump-Tweets. Der Umweg über Breitbart News hatte das Zitat freilich entstellt. Nach einem Shitstorm sah sich Lynch, der im Konjunktiv gesprochen hatte, um Klarstellung bemüht: "Sie verursachen Leiden und spalten das Land. Es ist nicht zu spät, das Schiff in eine andere Richtung zu bewegen – hin zu einer glänzenden Zukunft."

Was bei diesem Scharmützel unterging, war das Wort, das Lynch mit Trump positiv assoziierte: "disruption", also den Bruch mit einer Kontinuität. Störfälle, Unterbrechungen, Risse gibt es auch im Werk des bedeutenden Filmemachers zuhauf. Hinter der Scheinidylle eines Amerikas friedvoller Kleinstädte lauert dunkle Gewalt, die immer wieder die Oberflächen durchbricht. Man denke nur an das abgetrennte Ohr in Blue Velvet, das im Garten verwest. Oder wie in Twin Peaks: The Return das Böse mit der infernalischen Wucht einer Atombombe über die Erde kommt.

Zweistimmige Rückschau

Wie sich Lynchs gespaltener, ja aberwitziger Blick auf seine Heimat geformt und über die Jahre entwickelt hat, darüber lässt sich jetzt in seiner neu erschienenen Autobiografie Traumwelten nachlesen. Die Rückschau ist passenderweise selbst zweistimmig gehalten. Ein faktenreicher, Gespräche mit Lebens- und Arbeitsgefährten einbeziehender "offizieller" Teil, den Kristine McKenna geschrieben hat, gibt im biografischen Duktus die Chronologie vor. Lynch selbst ergänzt, erweitert und korrigiert diese Teile dann jeweils mit eigenen, subjektiven Anmerkungen.

Beide Ebenen ergänzen sich zu einem äußerst detailreichen, unterhaltsamen wie lehrreichen Parcours durch den Lynch'schen Kosmos, wobei die vom Regisseur verfassten Erinnerungen den besonderen "touch" ausmachen. Mitunter überkommt einem beim Lesen der Eindruck, seinen Filmfiguren, etwa dem korrekten Agent Cooper aus Twin Peaks, zuzuhören. Lynch verhehlt seine Liebe zu schönen Objekten nicht. Und er schreibt lieber über Milchshakes und Apfeltorten als darüber, wie es ihm gelungen ist, einen Film fertigzustellen.

Ambivalentes Amerika

Zugleich lässt sich durch die Lektüre jedoch erfahren, dass Lynch – wie Trump übrigens 1946 geboren und damit Teil der ersten Babyboomer-Generation – schon früh von den gegenläufigen Dynamiken in den USA geprägt wurde. In die Erinnerungen an seine Kindheit in Boise, Idaho, wo er in einem gläubigen Elternhaus aufwuchs, mischen sich auch nostalgische Töne. Das Amerika der 1950er-Jahre war eines der Unbeschwertheit und Prosperität, das er als Lausbub in Kinderbanden durchlief, die zum Spaß mitunter kleine Bomben bastelten.

In Philadelphia, wo Lynch an der Kunstakademie Malerei studierte, erweiterte sich seine Perspektive auf das Land. Die Risse wurden stärker, die Idylle erschien immer mehr als Schimäre – diese Widersprüche machte sich Lynch in seinen Werken dann so produktiv zu eigen. Philadelphia war, so beschreibt es einer seiner ältesten Freunde, der berühmte Produktionsdesigner Jack Fisk, "eine beängstigende Stadt. Hier lernte David eine Welt kennen, die regelrecht verkommen war."

Während Lynch düstere Gemälde und seine ersten, noch animierten Kurzfilme anfertigte, tobten auf den Straßen Rassenunruhen und Polizeigewalt; dennoch war der Student begeistert vom industriellen Nimbus der Großstadt, dem Klang und Zauber einer öligen Maschinenwelt, die auch in seine Bilderwelt Eingang fand.

Künstlerische Unbeirrbarkeit

Dass Lynchs Karriere als Filmregisseur stockend begann, hat viel mit seiner Idiosynkrasie zu tun, mit seiner künstlerischen Unbeirrbarkeit. Eigenhändig platziert er schon mal Flusen unter der Heizung, wenn es besser aussieht. Im Buch wird er ausnahmslos als einnehmende Persönlichkeit beschrieben, deren Milde (dank Meditation) und Leidenschaft ansteckend wirken. Zugleich haftet dem Mann, der seine Hemden bis auf den letzten Knopf geschlossen trägt, seit jeher etwas Exzentrisches an – in Hollywood blieb er skeptisch beäugt.

Sein erster Spielfilm Eraserhead wurde in mühevoller Kleinarbeit noch während der Ausbildung beim American Film Institute realisiert und erst über den Umweg New Yorker Kunstkinos zum Underground-Erfolg. Lynchs weitere Laufbahn ist auch ein Spiegel der Zeit und in dieser Form heute wohl kaum mehr vorstellbar. Bei der Lektüre des Buches wird noch einmal deutlich, wie wichtig die Rolle wagemutiger Produzenten war, die an das Talent des Eigenbrötlers Lynch glaubten.

Dass er 1980 einen Film wie The Elephant Man drehen konnte, mit einem Cast von britischen Starschauspielern, lag etwa an Mel Brooks, der ihn protegierte. Der legendäre italienische Produzent Dino de Laurentiis war es wiederum, der Lynch zuerst in das desaströse Science-Fiction-Epos Dune schickte, ihm dann aber auch Blue Velvet ermöglicht hat, wo er endlich zu sich selbst fand.

Viel Raum für Mitstreiter

Einer der schönsten Aspekte dieser Biografie bleibt, wie viel Raum sie Lynchs Mitstreitern gibt: dem Soundgenie Alan Splet, dem Kameramann Freddie Frances oder dem Komponisten Angelo Badalamenti. Auch die vielen Frauen an der Seite des schnell verliebten Filmkünstlers kommen nicht zu kurz. Eine der schönsten Passagen erzählt davon, wie er Elizabeth Taylor küssen durfte. An dem Tag, an dem er den Oscar nicht bekam. (Dominik Kamalzadeh, 6.7.2018)