"Solche Aussagen sind nicht hilfreich", sagt Cengiz Günay über die Kritik des Grünen-Politikers Cem Özdemir am Wahlverhalten der Deutschtürken.

Sieger Erdogan.

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Tayyip Erdoğans Sieg bei der Präsidentenwahl und der seiner AK-Partei bei der Parlamentswahl in der Türkei am Sonntag haben Schönheitsfehler, meint der österreichische Politologe Cengiz Günay. Denn ohne die Stimmen der Nationalisten wären sich keine Mehrheiten ausgegangen. Bei der Verschärfung der Wirtschaftskrise könnte diese auch abspringen.

Die Oppositionsparteien hätten angesichts dessen, dass der vorgezogene Wahltermin sie "kalt erwischt" habe, wirklich gut mobilisieren können.

STANDARD: Erdoğan hat die Präsidentenwahl gewonnen, die Opposition wittert Betrug und hat andere Zahlen. Wer hat recht?

Günay: Das Hauptproblem ist, wie bereits im Wahlkampf vorgegangen wurde und wie die Opposition behindert wurde. Bei Wahlkampfveranstaltungen von Muharrem İnce zum Beispiel wurden Buslinien eingestellt, um die Leute an der Teilnahme zu hindern. Plakate der Opposition wurden heruntergerissen. In den Medien kamen Oppositionskandidaten so gut wie nicht vor. Auch wurden die Wahlergebnisse nur über die staatliche Presseagentur bekanntgegeben. Die hat den Sieg Erdoğans recht früh verkündet. Gleichzeitig rief der Oppositionskandidat dazu auf, in den Wahllokalen zu bleiben, es sehe sehr gut aus, man habe andere Zahlen. Umso erstaunlicher ist es, dass İnce so lange nach der Wahl abgetaucht blieb. Sein einziges Lebenszeichen war gestern eine Whatsapp-Nachricht an den Moderator des letzten relativ unabhängigen Senders Fox News, in der İnce seine Niederlage eingestand.

STANDARD: Die Kurden wählen unter hoher Polizeipräsenz. Im Vorfeld der Wahlen gab es im kurdischen Südosten der Türkei viele Festnahmen. Die HDP kam bei der Parlamentswahl trotzdem auf elf Prozent.

Günay: Das ist ein großer Achtungserfolg, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen sie Wahlkampf machten. Es war allerdings von vornherein klar, dass die HDP im – ab jetzt viel zahnloseren – Parlament das Zünglein an der Waage sein würde. Hätte die Kurdenpartei die Zehnprozenthürde nicht geschafft, hätte die AKP alleine, ohne die Nationalisten als Koalitionspartner, die absolute Mehrheit geschafft. Viele Stimmen für die HDP waren geliehene Stimmen der kemalistischen CHP, weil die Erdoğan-Gegner garantieren wollten, dass die HDP ins Parlament kommt. Allen Oppositionskandidaten ist es erstaunlicherweise gelungen, Wähler zu mobilisieren. Vor zwei Monaten hätte das noch niemand gedacht. Diese vorgezogene Wahl war eine Ho-ruck-Aktion und hat die Opposition kalt erwischt. Muharrem İnce bleibt der türkischen Politik sicher erhalten und wird wohl zum Star der Opposition aufsteigen.

STANDARD: Ist der Weg der Türkei in eine Autokratie seit Sonntag besiegelt?

Günay: Es ist jetzt legalisiert, formal war es vorher schon mehr oder weniger ein Präsidialsystem. Der Putschversuch und die Erklärung des Ausnahmezustands haben Erdoğan auch die Instrumente dazu in die Hand gelegt. Was tiefe Einschnitte mit sich bringen wird, ist die Neuordnung der Institutionen. Erdoğan kann Ministerien auflösen, neue gründen. Minister dürfen nicht mehr aus dem Parlament sein. Das institutionelle Setup ist nun noch mehr auf seinen Willen zugeschnitten. Gleichzeitig muss man darauf hinweisen, dass die Wahlergebnisse für die AKP einen Abwärtstrend zeigen. Die Partei hat kaum mehr Führungsfiguren. Selbst für Erdoğan wären sich die 52,55 Prozent nicht ohne die Unterstützung der Nationalisten ausgegangen. Er ist de facto in einer Koalition.

STANDARD: Sind die Nationalisten von der MHP jetzt das Zünglein an der Waage?

Günay: Ja, Erdoğan ist im Parlament mit seiner Partei nicht mehr allein an der Macht. Der MHP-Chef hat gestern auch die durchaus selbstbewusste Ansage gemacht, Erdoğan habe nur wegen ihnen gesiegt. Viele Kommentatoren erwarten, dass die alte Forderung nach einer Generalamnestie von der MHP wiederaufgenommen wird. Und Erdoğan wird auf einige Forderungen eingehen müssen. Man muss auch sehen, dass die Opposition doch relativ stark ist. Fast 48 Prozent der Türken haben schließlich gegen ihn gestimmt. Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, wie die Bedingungen im Wahlkampf waren. Auf den ersten Blick ist das Wahlergebnis ein Rückschlag für eine Rückkehr zum Rechtsstaat, gleichzeitig gibt es aber auch Hoffnung.

STANDARD: Was ist in der Türkei das Hauptargument dafür, Erdoğan zu wählen? Die Wirtschaft kann es mittlerweile nicht mehr sein.

Günay: Das ist einerseits mit dem sozialen Umverteilungssystem zu erklären, das Erdoğan über die Jahre geschaffen hat. Den Menschen wird suggeriert, dass ihre Existenz bedroht ist, wenn es die AKP nicht mehr gibt. Den Konservativen wird suggeriert, dass mit einem Erfolg der CHP wieder das Kopftuchverbot kommt und wirtschaftlicher Fortschritt verhindert wird. Diese Strategie ist erfolgreich. Selbst in Izmir, wo İnce am stärksten war, hat Erdoğan noch 40 Prozent. Der Polarisierungskurs und das Bespielen von Feindbildern funktionieren natürlich auch deshalb, weil die Medien von der AKP kontrolliert sind.

STANDARD: Wie stark ist die Zivilgesellschaft in diesem repressiven Umfeld?

Günay: Zehntausende aus der Zivilgesellschaft haben sich als Wahlbeobachter betätigt. Das ist ein starkes Lebenszeichen der Zivilgesellschaft trotz der autoritären Tendenzen.

STANDARD: In Österreich lag die Zustimmung für Erdoğan sogar über 70 Prozent. Wie lässt sich das erklären?

Günay: In Österreich hängt das sehr stark damit zusammen, dass die meisten Menschen, die eingewandert sind, aus Gegenden in Zentral- und Ostanatolien stammen, wo die AKP sehr stark ist. In Yozgat, wo 80 Prozent der türkeistämmigen Personen in Wien herkommen, gibt es ähnliche Ergebnisse wie bei den Wahlen in Wien. Der andere Grund ist der österreichische Diskurs, der von den Menschen als sehr antiislamisch, antitürkisch empfunden wird. Türke zu sein wird in Österreich ständig thematisiert. Das Wahlverhalten ist auch eine Reaktion darauf, vergleichbar mit dem Waldheim-Effekt damals in Österreich. Auch die Moscheenschließungen und die Law-and-order-Attitüde, mit der diese präsentiert wurden, nützen Erdoğan eher, als dass sie ihm schaden würden.

STANDARD: Der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir kritisiert das Wahlverhalten der Deutschtürken als undemokratisch.

Günay: Das finde ich sehr populistisch. Da könnte man auch sagen, dass die AfD- oder FPÖ-Wähler die Demokratie an sich ablehnen. Solche Aussagen sind nicht hilfreich. Die Menschen, die in Europa wählen, sind den autoritären Maßnahmen, die es in der Türkei gibt, nicht ausgesetzt. Auch in der Türkei spürt Otto Normalverbraucher den Ausnahmezustand im Alltag oft gar nicht. Die, die es betrifft, sind aber natürlich umso härter betroffen. Die massive Kritik kann man aus diesem Grund nicht nachvollziehen. Viele in der Türkei und außerhalb finden es auch ungerecht, dass die Bedrohung, die in der Türkei als real wahrgenommen wird, wie zum Beispiel Anschläge durch die PKK oder der Putschversuch aus dem Jahr 2016, im Ausland nicht ernst genommen wird.

STANDARD: Unmittelbar wird sich Erdoğan wohl vor allem mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage auseinandersetzen müssen.

Günay: Das ist eine große Herausforderung. Die türkische Lira hat gegenüber dem Dollar über 25 Prozent an Wert verloren. Alle, die mit dem Ausland Geschäfte machen, sind davon betroffen. Was die Regierung nun sofort versuchen wird, ist, das Klima für Investoren zu verbessern. Die Türkei ist ein interessanter Markt, hat eine dynamische Gesellschaft. Die Firmen sind allerdings aufgrund der politischen Vorgänge zögerlich. Die Frage ist, was passiert, wenn die Wirtschaft wirklichen krachen geht. Bisher konnte Erdoğan allen erfolgreich erklären, dass er die Krise am besten selbst lösen könne. Ob bei einer ernsthaften Krise der Koalitionspartner mitträgt, ist fraglich. (Manuela Honsig-Erlenburg, 25.6.2018)