Der Präsidentenkandidat der sozialdemokratischen CHP, Muharrem İnce, gab in seiner Heimatsstadt Yalova am Vormittag die Stimme ab. Er werde im Lauf des Tages nach Ankara fliegen und am Abend vor dem Gebäuder der Nationalen Wahlbehörde stehen, sagte er. İnce hat Zweifel an einer korrekten Auzählung.

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Muharrem İnce ist der Erste, zumindest im Wahllokal. Um halb elf am Sonntag gibt er in Yalova, seiner Heimatstadt am Marmarameer und nicht weit von Istanbul, seine Stimme ab. Der Präsidentenkandidat der größten Oppositionspartei wirkt ein wenig nervös. Zum ersten Mal steht er bei einer Wahl selbst im Mittelpunkt. In vier Wochen Wahlkampf hat er sich zum lautstärksten Herausforderer des türkischen Staatschefs heraufgeschwungen, und nun ist der Tag der Entscheidung da.

İnce braucht keine 30 Sekunden für den Gang in die Wahlkabine, dann steht er schon wieder vor dem Tisch des Wahlkomittees, posiert kurz für die Kameras und lässt seinen Umschlag mit den Stimmzettel in die Urne fallen. Am Abend werde er vor dem Sitz der Nationalen Wahlbehörde in Ankara sein, kündigt İnce an. Es soll eine Warnung und ein Aufruf sein: Die Opposition wird den Wahlverlauf genau beobachten, die Bürger sollen Druck machen für eine korrekte Auszählung ihrer Stimmen. Beim Referendum über den Verfassungswechsel im Vorjahr hatte die Wahlbehörde noch während der Abstimmung die Regeln geändert und auch Stimmzettel zugelassen, die keinen Stempel der Wahlbehörde hatte. Das soll zum knappen Sieg für Tayyip Erdoğan seine Präsidialverfassung beigetragen haben.

Erste Zwischenfälle

Bis Mittag sind bereits erste Zwischenfälle bekannt geworden. Im mehrheitlich kurdischen Distrikt Suruç, an der türkisch-syrischen Grenze, soll in einem Stimmlokal eine Urne mit offenbar vorbereitet eingelegten Stimmzetteln aufgetaucht sein. Das Bild wurde auf Twitter verbreitet. In der Kleinstadt kam es vergangene Woche auch zu einem gewalttätigen Zusammenstoss: Ein AKP-Abgeordneter auf Wahlkampftour stritt sich mit einem Ladenbesitzer. Bei der folgenden Auseinandersetzung wurden der Ladenbesitzer und der Bruder des Abgeordneten erschossen, Bruder und Vater des Ladenbesitzers wurden verletzt und kamen später im Spital auf nicht geklärte Weise ums Leben.

Aus Suruç wurden am Wahltag auch erneut Gewalttätigkeiten gemeldet. Vertreter der oppositionellen CHP in den Stimmlokalen sollen von Offiziellen in den Stimmbüros geschlagen worden sein. Unregelmäßigkeiten gab es angeblich auch in Diyarbakir. Dort sollen drei Männer versucht haben, mit 1000 Stimmzetteln in ein Wahllokal einzudringen.

Heute noch Ergebnisse

Die Wahllokale schließen um 17 Uhr Ortszeit – 16 Uhr in Wien -, bis 21 Uhr gilt dann ein Embargo für Hochrechnungen und Ergebnisse, die nicht von der Wahlbehörde veröffentlicht wurden. Die Wahlbehörde will heute vor Mitternacht Ortszeit die Ergebnisse bekannt geben.

Fünf Kandidaten treten bei der Präsidentenwahl gegen Amtsinhaber Erdoğan an, acht Parteien sind es bei den Parlamentswahlen. Dass Erdoğan anders als bei der ersten Direktwahl des türkischen Präsidenten im Sommer vor vier Jahren nicht schon in der ersten Runde gewählt wird, ist nach Einschätzung politischer Beobachter und laut Umfragen das wahrscheinlichere Szenario. In diesem Fall wäre eine Stichwahl in zwei Wochen, am 8. Juli, nötig. Bei den Parlamentswahlen ist offen, ob die seit 2002 regierende konservativ-islamische AKP von Erdoğan erneut die absolute Mehrheit gewinnt. Mit dieser Wahl wird allerdings der Verfassungswechsel in der Türkei abgeschlossen. Das Parlament braucht der nächste Präsident nicht zum Regieren.

Yaşar Yakiş, ein ehemaliger Mitbegründer der AKP und der erste Außenminister der konservativ-islamisch geführten Regierungen, sieht die Lage einigermaßen nüchtern: Gleichgültig, wer die Wahlen gewinne, müsse mit der schlechten Wirtschaftslage fertig werden, schrieb er in einem Beitrag auf dem Nachrichtenportal Ahval. Wenn kein Wunder geschehe, werde auch eine von Erdoğan gebildete Regierung in Kürze schon wieder stürzen. Gewinnt die Opposition im Parlament oder gar bei den Präsidentenwahlen, erbe sie nur die Wirtschaftsprobleme des Erdoğan-Regimes.

Der Präsident zuletzt

Tayyip Erdoğan spart sich seinen Auftritt in der "Saffet Celebi"-Grundschule im Istanbuler Stadtteil Üsküdar bis zum Schluss auf. Dort geht der Präsident und langjährige Regierungschef traditionell wählen. Helfer des Präsidenten begannen um 13 Uhr, Jausenpakete an die Zuschauer zu verteilen, die vor die Schule gekommen waren, um Erdoğan zu applaudieren. Bis kurz vor Mittag haben die anderen führenden Politiker bereits die Stimmen abgegeben: Nach İnce in Yalova auch die rechtsnationale Präsidentschaftskandidatin Meral Akşener in Istanbul, der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP, Kemal Kiliçdaroglu in Ankara, der kurdische Präsidentenkandidat Selahattin Demirtaş im Gefängnis in Edirne, Premier Binali Yildirim – sein Amt wird nun abgeschafft – in Izmir. Yildirim macht auf der Straße vor dem Wahllkokal schnell noch etwas Wahlwerbung, auch wenn das eigentlich verboten ist: Mit dieser Wahl eröffne sich für die Türkei ein neuer Horizont, sagt er, das neue Präsidialsystem schaffe Sicherheit. Spricht's und lässt sich in seiner Limousine davonfahren. (Markus Bernath; 24.06.2018)