Wo das Fleisch zerteilt wird, herrscht Kälte. Wo es verkocht wird, ist es warm und feucht. Wo Würstel und Schinken abgepackt werden, ist es nicht nur kalt, sondern das Rattern der Verpackungsmaschinen macht jede Unterhaltung schwierig. Die Arbeitsbedingungen beim Fleischereibetrieb Radatz im Süden von Wien sind für Mitarbeiter nicht immer angenehm. Die Hygieneanforderungen in der Lebensmittelindustrie sind extrem hoch.

In vielen Industriebetrieben wird heute schon bis zu zwölf Stunden am Tag gearbeitet.

Acht Stunden am Tag unter diesen Bedingungen zu arbeiten ist anstrengend – und zwölf? Eine Betriebsvereinbarung bei Radatz erlaubt es bei unvorhergesehenem hohem Produktionsbedarf, die Schicht auf bis zu zwölf Stunden auszuweiten.

Nur sehr selten werde diese Regelung genutzt, erzählt Betriebsratschef Robert Schwarzbauer. Auf dem Höhepunkt der Grillsaison oder zu Weihnachten komme es aber schon vor, wenn Supermärkte auf einmal besonders große Bestellungen abgeben. "Das rohe Fleisch kann man nicht liegenlassen", sagt Schwarzbauer.

Lohnraub vs. Flexibilität

Die Diskussion um den Zwölfstundentag dominiert die innenpolitische Debatte in Österreich, seitdem im Nationalrat vergangene Woche ein Initiativantrag von zwei Abgeordneten der türkis-blauen Koalition für eine Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes eingebracht wurde.

Aktuell kann die tägliche Höchstarbeitszeit nur unter genau vorgegebenen Rahmenbedingungen von zehn auf zwölf Stunden erhöht werden. Künftig sollen viele dieser Vorgaben wegfallen. Nun tobt ein heftiger Streit darüber, was die Neuerung bringen wird.

Die Gewerkschaft spricht von Lohnraub und sieht durch den Zwölfstundentag das Familienleben und die Gesundheit gefährdet. Wirtschaftskammer und Industrie befürworten dagegen die neue Flexibilität und sagen, der Achtstundentag werde weiter die Regel bleiben.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zum geplanten Arbeitszeitgesetz.
DER STANDARD

Wie sieht die gelebte Praxis aus?

DER STANDARD wollte sich dieser Debatte aus einer anderen Perspektive nähern: Welche Erfahrungen mit dem Zwölfstundentag gibt es in Betrieben, die ihn schon jetzt immer wieder einsetzen? Wie sieht die gelebte Praxis bei Überstundenvergütung und Zeitausgleich aus, was also würde sich durch die neuen Regelungen ändern?

Nachgefragt haben wir deshalb in Unternehmen der Metall- und der Chemieindustrie, bei Fleischverarbeitern, Banken, in der IT-Branche und im Gastgewerbe. Zu Wort kamen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter. In den meisten kontaktierten Betrieben gibt es, so wie bei Radatz, eine offizielle Regelung, die den Zwölfstundentag schon derzeit möglich machen kann. In anderen Firmen gibt es Lösungen unter der Hand.

Heim zur Familie

Bei Radatz ist die Sache simpel. Beim Fleischer arbeiten traditionell viele Migranten, deren Familien daheimgeblieben sind. Die Ungarn, Kroaten und Serben können bei geblockter Mehrarbeit unter der Woche schon freitagfrüh zu ihren Familien heimfahren, was viele freut. Mehrarbeit auch einmal jenseits der zehn Stunden sei anstrengend, habe aber keinen schlechten Ruf bei diesen Mitarbeitern, wird erzählt.

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Wer geblockt arbeitet, kann früher heim zur Familie fahren.
Foto: Reuters/REGIS DUVIGNAU

Ab der fünften Überstunde in der Woche steigen zudem die Zuschläge von 50 auf 100 Prozent. Wobei natürlich nicht jeder die langen Tage machen könne, sagt Betriebsrat Schwarzbauer. Besonders Frauen mit Kinderbetreuungspflichten sei dies oft nicht möglich. Dafür gebe es aber im Betrieb Verständnis, die Dienste werden entsprechend eingeteilt. "Auf Dauer kann aber niemand die harte Arbeit zwölf Stunden machen, es muss die absolute Ausnahme bleiben."

Häufiger als bei Radatz gibt es Zwölfstundentage bei Welser Profile. Vergangene Woche haben Unternehmensführung und Betriebsrat eine Vereinbarung geschlossen, die Zwölfstundenschichten bis Mitte Dezember ermöglicht. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Gresten, Niederösterreich, mit weltweit 2.400 Mitarbeitern produziert Stahlrohre für Markisen ebenso wie für Küchenschienen. Beliefert werden Abnehmer global. Die Auftragslage ist sehr gut.

Überstunden bei besonderem Arbeitsbedarf

Laut Arbeitszeitgesetz können Unternehmen schon bisher bei "auftretendem besonderem Arbeitsbedarf" Zwölfstundentage einführen. Voraussetzung ist eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat, so es einen gibt. Alle acht Wochen muss für zwei Wochen eine Pause eingelegt werden. Für 24 Wochen sind solche Regelungen erlaubt.

Bereits in den vergangenen zwei bis drei Jahren habe man auf diese Ausnahmeregel zurückgegriffen, erzählt der Betriebsratschef bei Welser Profile, Karl Heinz Hintersteiner. In die Vereinbarung wurde hineingeschrieben, dass die Erbringung der Überstunden freiwillig zu erfolgen hat und Arbeitnehmer ihre Zustimmung widerrufen dürfen.

Für die Schichten finden sich dennoch genügend Leute, so der Betriebsrat. Für den hohen Arbeitsbedarf ortet er Verständnis bei der Belegschaft. "Wenn Aufträge da sind, müssen sie abgearbeitet werden." Natürlich melden sich nicht alle für die langen Schichten, wer Kinder hat oder im Verein Fußball spielt, eher selten.

Wer im Verein ist, meldet sich nicht

Wer das Geld braucht, will dafür oft: Für die Überstunden fallen Zuschläge von 100 Prozent an, darauf haben sich Arbeitnehmer und Unternehmer verständigt. Gesetzlich vorgesehen sind nur 50 Prozent.

Wenn die Arbeiterkammer mit ihrer Kampagne gegen den Zwölfstundentag insinuiert, dass dieser generell schlecht ist, sehen das viele Arbeitnehmer anders. In mehreren vom STANDARD befragten Industrieunternehmen werden ähnliche Geschichten von guten Zuschlägen erzählt. Wenn der Zwölfstundentag nicht zum Regelfall wird, hat er auch Freunde.

In einem Betrieb gibt es keine offizielle Vereinbarung, was gesetzeswidrig ist. Dafür aber neben Zuschlägen an warmen Tagen in der Freibadsaison auch einmal Schichtende nach wenigen Stunden um 13 Uhr. Gewerkschafter erzählen zudem, dass sich die Arbeitsbedingungen in vielen Betrieben verändert haben.

Natürlich gebe es körperlich harte Arbeit in der Fabrik. Aber häufig bestehe Industriearbeit heute aus der Überwachung von Maschinen. Der Arbeiter müsse nur in Abständen in die Produktion eingreifen und Einstellungen an der Maschine verändern. Das könne man auch einmal zwölf Stunden lang machen, ohne dass es gesundheitsschädlich ist.

Geschwächte Position für Arbeitnehmer

In diesen Darstellungen wird also nicht der Zwölfstundentag als Problem angesehen, sondern wie er künftig zustande kommen soll. Die Arbeitnehmer lassen sich aktuell ihre Zustimmung zur Ausweitung der Schichten auf bis zu zwölf Stunden für begrenzte Zeit abkaufen. Derzeit schreibt das Arbeitszeitgesetz vor, dass eine Vereinbarung darüber zustande kommen muss – die Unternehmer brauchen die Absprache.

Dieser Passus soll fallen, wenn die türkis-blaue Reform kommt. Das muss nicht automatisch mit Lohnkürzungen verbunden sein, da hat die Regierung recht. Wenn sich Betriebsräte und Gewerkschaften durchsetzen, können die aus ihrer Sicht günstigen Vereinbarungen im Betrieb oder via Kollektivvertrag bestehen bleiben. Doch in Verhandlungen wird die Position der Arbeitnehmer geschwächt, weil die Unternehmen die Absprache nicht mehr brauchen. Das Risiko für Streiks steigt damit.

Andere Branchen

Doch wie sieht es in anderen Branchen jenseits der Industrie aus? Die Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (Forba), ein Wiener Institut, hat 2000 Arbeitnehmer dazu befragt, wie verbreitet Arbeitstage von zehn Stunden und mehr sind.

In der Metallindustrie geben 26 Prozent der Vollzeitbeschäftigten an, dass dies mehr als einmal im Monat vorkommt. Verbreitet ist das Phänomen auch im Handel, wo 31 Prozent der Beschäftigten davon berichten. Spitzenreiter ist die Gastronomie. Im IT-Sektor arbeitet fast ein Drittel der Beschäftigten nach eigenen Angaben auch einmal zehn Stunden und länger.

"Ich kenne niemanden in der IT-Branche, der noch nicht zwölf Stunden gearbeitet hat", sagt Susanne Sucher, Betriebsratsvorsitzende der s IT Solutions AT. Die s IT Solutions ist der IT-Dienstleister für die Erste Group und beschäftigt österreichweit gut 950 Mitarbeiter. Im Unternehmen gibt es ein Gleitzeitmodell, erzählt Sucher.

Gleitzeitregelung

Gleitzeit dient zur Flexibilisierung der Arbeitszeit: Arbeitnehmer sollen sich innerhalb eines festgelegten Rahmens, zum Beispiel von sieben Uhr früh bis 19 Uhr, Arbeit möglichst selbstständig einteilen. In der Gleitzeit selbst sind nach derzeitigem Gesetzesstand nur zehn Stunden am Tag möglich. Dennoch ist es in vielen IT-Unternehmen üblich, dass legal zwölf Stunden gearbeitet wird. Auch hier gilt die erwähnte Sonderregel in Ausnahmefällen.

Hat ein Arbeitnehmer die zehnstündige Gleitzeit ausgeschöpft, soll aber weitermachen, werden die restlichen zwei Stunden extra erfasst. Für Überstunden, ganz egal, ob es nun die zehnte oder die zwölfte Stunde ist, gibt es prinzipiell dieselben Zuschläge von 1:1,65. Das ist in einer eigenen Betriebsvereinbarung und im Branchenkollektivvertrag festgelegt.

Aber: Bis zur zehnten Stunde werden Überstunden im Gleitzeitsystem eingetragen. Wenn sie ein Jahr nicht in Form von Freizeit konsumiert werden, erfolgt die Auszahlung mit Zuschlag. Eine Betriebsvereinbarung bei s IT Solutions sieht so wie bei anderen Firmen in der Branche vor, dass die elfte und zwölfte Stunde dagegen am Monatsende ausbezahlt werden.

Neue Welt der Überstunden

Was also soll sich ändern? Laut aktuellem Plan von ÖVP und FPÖ darf künftig zwölf Stunden Gleitzeit statt zehn eingetragen werden. Eine Gleitzeit gilt immer für eine bestimmte Periode, oft ein Jahr. Die Zuschläge fallen mit der neuen Regelung nicht automatisch weg.

Aber die Chancen steigen, dass die Mehrarbeit in der Gleitzeitperiode durch Freizeit ausgeglichen wird – und diesfalls werden Überstunden 1:1 vergütet. Könnte der Betriebsrat anderes vereinbaren? Ja, natürlich. Aber auch hier ändert sich die Position der Verhandler, außer eine explizite Regelung schließt das aus.

Wie sehen die Arbeitgeber die Lage? Bei der Wirtschaftskammer (WKO) heißt es, dass der Zwölfstundentag dort, wo er gebraucht werde, meistens schon jetzt genutzt werden könne. Zählt man den öffentlichen Sektor, Polizei und Spitäler dazu, kennen österreichweit die Hälfte der Arbeitnehmer die langen Arbeitstage, sagt Rolf Gleißner von der WKO.

In der Gastronomie kommen Zwölfstundentage immer wieder vor.
Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Er sagt auch, dass es Fälle gab, in denen Betriebsräte eine für das Unternehmen notwendige Vereinbarungen zur Ausdehnung der Arbeitszeit blockiert haben. Beispiele könne er nicht geben, die Unternehmen wünschten das nicht.

Die Kleinunternehmer im Fokus

Was flexible Arbeitszeiten betrifft, sieht Gleißner das drängendere Problem bei Klein- und mittleren Betrieben ohne Betriebsrat. Die Hälfte der Unternehmen in Österreich gehört in diese Kategorie.

Auch in diesen Betrieben darf bei erhöhtem Bedarf zwölf Stunden gearbeitet werden. Hier muss die Vereinbarung zwischen Unternehmer und Mitarbeiter schriftlich geschlossen werden. Ein Arbeitsmediziner muss dazu in einem Gutachten feststellen, dass die Mehrarbeit unbedenklich ist.

Für kleine Betriebe kann das teuer werden. Das Gutachten des Arbeitsmediziners kostet 1.000 Euro und mehr. Die Regelung hat in der Form keinen Sinn, sagt Gleißner. Dass in einem Gasthaus bei einer Feier ein Kellner mal zwölf Stunden bleiben kann, ohne dass dies gefährlich wird, sei doch unbestritten.

Wenig praktikable Lösung

Die Regelung ist wenig praktikabel: In keinem vom STANDARD kontaktierten Wirtshaus gibt es eine Vereinbarung zum Zwölfstundentag. In allen kommt er vor. Die türkis-blaue Gesetzesreform streicht hier die aktuell hohen Voraussetzungen und würde damit den Status quo legalisieren.

In puncto Entlohnung würde sich nichts ändern. Die WKO sagt, die Arbeitszeiten blieben auch gleich. Die Gewerkschaft meint, der Druck zu mehr Überstunden werde steigen.

Sagen, wer im Recht ist, lässt sich nicht. Denn unabhängige Analysen dazu gibt es nicht. Selbst wenn die Experten nun Überstunden schöben, um das zu ändern, würde das nicht helfen: Türkis und Blau wollen die Arbeitszeitreform ohne Begutachtung und damit bald beschließen. (András Szigetvari, 23.6.2018)