Philippe Sands, "Rückkehr nach Lemberg". € 26,80 / 591 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2018

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Es sind nicht nur die eigenen Familienwurzeln, die den britischen Menschenrechtsanwalt Philippe Sands nach Lemberg, heute Lwiw, zurückführen: 1904 wurde dort sein Großvater Leon Buchholz geboren, eine Zeitlang haben auch Hersch Lauterpacht, Professor für Internationales Recht, und Ralph Lemkin, Staats- und Rechtsanwalt, in Lemberg gelebt. Was sie neben dieser Herkunft verbindet, ist der Holocaust, im Wesentlichen dessen rechtsphilosophische Reflexion, denn Lauterpacht und Lemkin waren beim Nürnberger Prozess in die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen involviert, und sie brachten jeweils einen neuen Rechtsbegriff ein:

Der eine, Hersch Lauterpacht, schuf den Begriff "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", Ralph Lemkin wiederum prägte den Begriff "Genozid" als Straftatbestand, er hatte sich mit dem Thema schon während seines Studiums an der Lemberger Universität intensiv auseinandergesetzt, Anlass war der Völkermord an den Armeniern. 1939 flüchtete Lemkin nach Schweden und anschließend in die USA.

Postkarte von Lemberg, Sands Buchtitel im Original ist jedoch treffender: "East West Street". Nicht Lemberg ist die gemeinsame Klammer, sondern der Genozid.
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Lauterpacht war nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien und später nach England übersiedelt. Und auch Leon Buchholz, der Großvater des britischen Autors, hat Lemberg schon früh den Rücken gekehrt und wurde in der Zwischenkriegszeit Spirituosenerzeuger in Wien. Als er 1998 in Paris starb, schreibt der Enkel, nahm er "Lemberg mit ins Grab", die Vergangenheit war für ihn tabu: "Es ist kompliziert, es ist die Vergangenheit, nicht wichtig."

Nicht reden wollen

Über die Familie, die im Holocaust umkam, wollte er nicht sprechen, oder eigentlich, er wollte über den Holocaust nicht reden. "C'est compliqué." Dabei hat Leon als Einziger seiner Familie überlebt, und die zählte "siebzig oder mehr" Mitglieder. "Er hatte mir nie gesagt, dass jede einzelne Person aus seiner Kindheit, jedes einzelne Mitglied der großen galizischen Familien Buchholz und Flaschner ermordet worden war."

Hier kommt nun eine weitere Person ins Spiel: Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt, höchster Jurist im Dritten Reich und schließlich Generalgouverneur des besetzten Polen, mitverantwortlich an der Ermordung der europäischen Juden, wofür er 1946 in Nürnberg zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde.

Diese vier Männer, die sich persönlich nie begegnet sind, in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen ist eine Leistung für sich. Eigentlich sind es mehrere Bücher in einem, was dem Leser nicht gerade die Lektüre spannend macht, Lemberg bleibt dabei ohnehin ein ferner Ort. Da mag der Buchtitel im Original schon treffender sein: East West Street. Nicht Lemberg ist die gemeinsame Klammer, sondern das, was der Untertitel sehr deutlich formuliert: "Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte".

Recht und Moral

Dass die "persönliche Geschichte", die von Sands Großvater, und damit der eigenen Herkunft, zwar gedanklich, aber nicht wirklich erzählerisch in diese großangelegte rechtsgeschichtliche Reflexion passt, ist eine andere Sache.

Nimmt man dieses Buch als Dokumentation, als Auseinandersetzung mit der Frage von Recht und Moral, dann haben wir es hier mit einem bedeutsamen Werk zu tun. Soll es ein Stück Literatur, gar die große Erzählung sein, dann ist dieser Text viel zu weitläufig, zu detailreich, auch wird zu oft die eigene Befindlichkeit des Autors ausgebreitet, da wird dann jeder einzelne Rechercheschritt berichtet – das ist weder notwendig noch von Belang, vor allem wirkt es lehrerhaft umständlich und erklärt dann auch den Umfang des Buches, fast 600 Seiten.

Trinken Sie ohne Furcht!

Zudem ist die Übersetzung sprachlich nicht immer auf der Höhe, was bei einem so um- fangreichen Text nicht verwundert, wenn man bedenkt, wie schnell Übersetzungen heutzutage fertig sein müssen. Unangenehmer sind topografische und leider auch historische Fehler, da wurde offenbar schlampig recherchiert. Wenn von "Ausflügen ins nahe Leopoldsberg, nördlich von Wien" die Rede ist oder dass die Bri-gittenau ganz nah am Flugfeld Aspern liegt, dann ist das in erster Linie der Ortsunkenntnis geschuldet.

Peinlicher ist, wenn man von der "sozialistischen Neuen Freien Presse" lesen muss. Auch war es nicht Seyß-Inquart, der Adolf Eichmann mit der Errichtung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung beauftragt hat, und im Oktober 1941 wurden von Wien aus nicht 50.000 Juden ins Ghetto nach Litzmannstadt deportiert, sondern 5000. Nun mögen diese Fehler so im englischen Original stehen, aber gerade von einem Verlag wie S. Fischer würde man sich ein sorgfältigeres Lektorat erwarten.

Merkwürdig wäre auch diese Stelle, wo es heißt, dass Hans Frank "ein böhmisches Kristallglas mit tiefrotem Türkenblut hob". Welcher Leser weiß schon, dass das in den 1920er-Jahren ein beliebter Mode-Aperitif war: Sekt mit einem Schuss Rotwein. Richtig befremdlich wird es im Kontext, denn Frank prostet damit seinem Gast, dem italienischen Schriftsteller Curzio Malaparte, zu, mit den Worten: "Trinken Sie ohne Furcht, mein lieber Malaparte; dies ist kein Judenblut. Prosit!" (Gerhard Zeillinger, Album, 24.6.2018)