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Hat die Bundesregierung sich mit ihrer Sozialpolitik unwissentlich in eine Sackgasse manövriert? Oder steckt dahinter doch ein großer Masterplan zur Kürzung von Sozialleistungen für alle.

Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Die Bundesregierung hat die Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen angekündigt und versucht den Eindruck zu erwecken, es ginge dabei um die Vermeidung der "Zuwanderung in unser Sozialsystem". Abgesehen davon, dass der Slogan bösartig unterstellt, das wäre das Ziel der Migrantinnen und Migranten, erweckt er den Eindruck, man möchte das Sozialsystem für die bisher Anspruchsberechtigten aufrechterhalten. Doch unter diesem Deckmantel geht es der Bundesregierung um die Schwächung sozialer Absicherung insgesamt.

Schon das Streichen oder Reduzieren von Leistungen für diejenigen, "die noch nichts beigetragen haben", trifft nicht nur Neuzuwanderer, sondern Personen in verschiedensten Lebenslagen. Wird denn bei dieser Fixierung auf das Beitragen und auf Leistung überhaupt danach gefragt, ob allen die Möglichkeit geboten wird, etwas beizutragen? Wie steht es um die Jugendlichen, die sich schwertun, eine Lehrstelle zu finden, vor allem dann, wenn die Regierung laut Programm die überbetriebliche Lehrausbildung einschränken will? Was ist mit denjenigen, die zwar erwerbstätig sind, denen aber eine sozialversicherungspflichtige Anstellung vorenthalten wird? Was ist mit jenen, die aufgrund ihrer angegriffenen Gesundheit oder aus anderen Gründen keine Stelle finden? Was ist mit Beiträgen zur Gemeinschaft, die nicht in Form von Erwerbsarbeit erfolgen?

Soziale Sicherheit

Dieses beliebte Argument vermischt zudem unterschiedliche Arten der Organisation sozialer Sicherheit: So basieren Sozialleistungen nur in einem Teil auf Beiträgen, die vom Erwerbseinkommen abhängig sind. Das zielt im sogenannten Bismarck'schen System auf die Erhaltung des Lebensstandards – durchaus unterschiedlich etwa für Arbeiter und Angestellte. Dagegen hat die universelle Absicherung auf einem Mindestniveau, also die frühere Sozialhilfe und die aktuelle Mindestsicherung, das Ziel, auf einem gegebenen kulturellen Niveau das Überleben zu ermöglichen. Anspruch darauf hat man daher nicht als jemand, der zuvor etwas beigetragen hat, sondern als Mensch mit grundlegenden Menschenrechten. Die Gesellschaft gewinnt, weil Ausgrenzung, Hunger und dadurch ausgelöste Kriminalität vermieden werden.

Auch für die Absicherung in der Erwerbslosigkeit sind Verschlechterungen angekündigt worden. Wer kürzer beigetragen hat, soll weniger bekommen. Wer länger erwerbslos ist, soll keine einkommensabhängige Notstandshilfe, sondern die Mindestsicherung beziehen. Schon jetzt ist die Dauer der Auszahlung des Arbeitslosengeldes von der Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung abhängig. Mit der weiteren Verschärfung signalisiert man, dass es mehr Druck auf Erwerbslose braucht, damit sie einen Job annehmen. Das kann zwar mit manchen Argumenten am Stammtisch übereinstimmen, widerspricht aber krass den Erkenntnissen der Erwerbslosigkeitsforschung. Die allermeisten Menschen wollen einen Arbeitsplatz nämlich nicht nur wegen des Einkommens, sondern auch oder vor allem wegen der an Erwerbsarbeit geknüpften Wertschätzung und zur Vermeidung von Stigmatisierung und Isolation, die mit Erwerbslosigkeit verbunden sind.

Der größere Druck, jede Arbeit annehmen zu müssen, kommt auf kurze Sicht den Unternehmen zugute, die dadurch auch sehr niedrig bezahlte und gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze besetzen können. Es ist deshalb zu befürchten, dass der Niedriglohnsektor in Österreich auf das deutlich höhere Niveau Deutschlands – auch bedingt durch die Hartz-IV-Reformen – anwächst. Auf den ersten Blick erscheint mehr Druck auch für die Solidargemeinschaft der Versicherten sinnvoll: Die Beitragszahler müssen mit ihren Beiträgen weniger Erwerbslose erhalten. Doch der Schein trügt: Wenn Erwerbslose in Hinblick auf die angebotenen Stellen wählerischer sein können und auch länger (ein möglichst hohes) Arbeitslosengeld beziehen, ist die Chance größer, dass sie eine stabile Beschäftigung finden, die zudem ihrer Qualifikation und ihrem Gesundheitszustand entspricht.

Krankheitskosten vermeiden

Man darf nicht vergessen, dass viele einen Job über Bekannte finden. Dafür müssen sie aber ihre Sozialkontakte aufrechterhalten können, was leichter fällt, wenn man im Freizeitverhalten und im Konsum weiter mithalten kann. Mittelfristig kommt das der Solidargemeinschaft der Versicherten zugute, weil zukünftige Arbeitslosigkeit sowie Krankheits- und Invaliditätskosten vermieden und höhere Beiträge eingezahlt werden. Und für die Unternehmen besteht der Vorteil großzügiger Absicherung in der Erwerbslosigkeit darin, dass Qualifikationen nicht verloren gehen. Das würde dem immer häufiger beklagten Fachkräftemangel vorbeugen.

Sinnvoller als die angekündigten populistischen Maßnahmen wäre es also letztlich für alle, die sehr strengen Zumutbarkeitsbestimmungen für die Annahme eines Arbeitsplatzes zu lockern, das Arbeitslosengeld von der heute sehr niedrigen Nettoersatzrate von 55 Prozent deutlich anzuheben und einen längeren Arbeitslosengeldbezug zu ermöglichen. (Jörg Flecker, 20.6.2018)