Das Cover von Mathieu Sapins Dokucomic "Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu".

Foto: reprodukt Verlag gerard

Der eine ist ein nicht ganz hoher, aber ziemlich massiver Berg von einem Mann, 140 Kilogramm verteilt auf einen Meter achtzig. Seine charakterliche Nähe zu seiner bekanntesten Rolle, der des Obelix in diversen zumindest in Frankreich supererfolgreichen Realverfilmungen, beschränkt sich nicht auf Hunger und Durst. Der Koloss ist auch streitsüchtig. Aber wie. Er walzt wie ein zu groß geratenes Kind durch das Leben und zieht Rollbahnen der Verwüstung. Seine Spezialität: soziale Beziehungen.

Ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt's sich völlig ungeniert: Der französische Comiczeichner Mathieu Sapin (links) begleitete Gérard Depardieu fünf Jahre lang durch ein Leben zwischen Cholerik, Gier nach Leben und jeder Menge Hunger und Durst.
Foto: reprodukt Verlag gerard

Das Zentrum dieser Welt heißt Gérard Depardieu. Wehe den Römern, die sich ihm in den Weg stellen! Nur bei den Frauen muss man dem heute 69-jährigen französischen Schauspielsuperstar mehr Talent als Obelix zusprechen. Es hat zwar nichts ewig gehalten, das aber dafür ziemlich oft. Gott gibt – und Depardieu nimmt. Wenn es langweilig wird, fliegt das Spielzeug sehr schnell in die Ecke.

Der andere ist in seinem Metier in Frankreich ebenfalls ein Star. Mathieu Sapin ist ein Comiczeichner, der 2012 einen Bestseller des florierenden Dokucomic-Genres veröffentlichte. Er begleitete den damaligen französischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande beim Wahlkämpfen und porträtierte die gruselige Atmosphäre des glatten und von grundsätzlichem Misstrauen geprägten Politparketts so stimmig, dass sich Frankreich wahrscheinlich bis heute nicht davon erholt hat.

Noch bevor Gérard Depardieu zum Steuerflüchtling und Russen wurde ("Die Franzosen sind ein trauriges Volk!") und mit Putin oder diversen anderen weiter östlich herrschenden Despoten flirtete und sich in seine Datscha eine Rotwein-Pipeline aus der Heimat legen ließ, durfte ihn Mathieu Sapin begleiten, im Rahmen der Dreharbeiten für eine Arte-Dokumentation auf einer Reise auf den 150 Jahre zuvor gelegten Spuren des Schriftstellers Alexandre Dumas (Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus) nach Aserbaidschan. Depardieu hatte zuvor ja nicht nur den Grafen von Monte Christo gespielt, sondern auch schon Dumas selbst. Autor Dumas hatte damals den Künstler Jean-Pierre Moynet dabei, der den Reisebericht mit Radierungen illustrierte, Depardieu wurde der kleine und schüchterne Mathieu Sapin beigestellt, der fleißig mitskizzierte und sich vor jedem neuen Gefühlsausbruch des Protagonisten fürchtete.

Foto: reprodukt Verlag gerard

Der Comiczeichner war so fasziniert von dieser in allen Farben zwischen Alarmsignal, Spotlight, Notausgang, Watschenbaum, Rot- und Schwarzsehen sowie Bratensauce, Bordeaux und Wodkaklarsicht leuchtenden Naturgewalt, dass es anschließend mit Unterbrechungen fünf Jahre wurden, in denen er Gérard Depardieu immer wieder auf seinen Lebensstationen besuchte. Die Comicdokumentation Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu (Verlag Reprodukt) bietet dabei zwar nicht die Speerspitze der Genrekunst. Die bewusst ungelenken, kindlichen Zeichnungen und Dialoge zwischen maßlosem Monster, "fleischgewordenem Eiffelturm", Genussmensch, Vielfraß, Kuschelmonster und Rabiatperle ergeben allerdings das stimmige Porträt eines aus der Zeit und mitunter auch aus dem Leben gefallenen Einzelgängers. Es beweist einmal mehr eines: Große Kunst entsteht in der Wildnis. In der Wildnis wohnen keine Schafe.

Während das ungleiche Paar mit dem Jeep oder einer Beiwagenmaschine durch die Steppen des Ostens rast oder sich im Rahmen einer ebenfalls für Arte gedrehten TV-Serie, Schlemmen mit Gérard, durch Westeuropa frisst und säuft (leerer Sack steht nicht gut) oder sich Depardieu während Dreharbeiten, in denen er ausgerechnet Stalin spielt, zu Tode langweilt, packt unser Monster gern philosophische Weisheiten aus: "Anderswo ist der einzige Ort, an dem ich gerne bin." Oder auch, besonders hübsch: "Im Voraus weiß ich nichts von mir."

Zu Hause in Frankreich packt Depardieu dann nicht nur die nackten Fakten, seinen Wanst und die darunter eingeklemmte Unterflak als geliebte Freizeitkleidung aus. Er erweist sich auch als mehr oder weniger feinsinniger Kunstkenner und -sammler. Die Fressattacken, die Schweiß- und Wutausbrüche bleiben: "Nichts ist hässlicher als man selbst!"

Gérard ist natürlich auch ein komisches Buch geworden. Die Grenzen zwischen Depardieus Filmrollen als Obelix, Kolumbus, Stalin, Lude, Schläger, Cyrano de Bergerac oder Napoleon verwischen. Gérard Depardieu hat seinem Biografen Mathieu Sapin völlig freie Hand gelassen. Das muss man sich erst einmal trauen, sich absolut nichts zu scheißen. (Christian Schachinger, 21.6.2018)