Der Bonsai-Gärtner Toshio Uematsu freut sich über Nachwuchs aus China, ...

Foto: Ram Malis

... die Australierin Fiona Graham bringt jungen Damen aus Tokio den Job der Geisha näher, ...

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... und der Mongole Batjargal Munkh-Orgil haut jeden japanischen Sumo-Ringer um.

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Der Boden bebt, wenn Batjargal Munkh-Orgil den Fuß auf den Sand setzt. Er sieht seinem Gegner eine Sekunde lang fest in die Augen, dann stürzen sich die beiden Sumo-Ringer aufeinander. Mit aller Wucht versucht sich der Herausforderer gegen den Mongolen zu stemmen, doch der 170-Kilo-Mann schleudert den Japaner in ein paar Augenblicken zu Boden.

"In der Mongolei träumen viele Buben davon, unbesiegbare Kraft zu besitzen", erzählt Batjargal nach seinem Morgentraining im Ring der Kataonami-Sumo-Einheit in Tokios zentralem Stadtteil Ishiwara. "Ich selbst wollte eigentlich nie ein Sumo werden." Batjargal ist ein Mann wie ein Fels. Über seinen massigen Körper rinnt Schweiß. Bis auf den traditionellen, Mawashi genannten Lendengürtel, über den sich sein stattlicher Bauch wölbt, ist er unbekleidet. Unter dem japanischen Namen Tamawashi Ichiro ist Batjargal in Tokio ein Star. Zweimal besiegte er einen Yokozuna, wie man die Großmeister im Sumo nennt.

Ausländer im Sumo-Ring

"Alles begann damit, dass ich meine Schwester besuchte, die in Japan lebt", erzählt der 33-Jährige aus Ulan-Bator. "Es war Schicksal. Ein anderer Mongole sagte mir, dass ich das Zeug zum Sumo habe. Ich meldete mich zum Training an und blieb." Batjargal ist längst nicht der einzige Mongole unter den Sumotoris Japans. Vier seiner Landsmänner stiegen in den letzten Jahren zum Yokozuna auf. Unter den Besten im Ring sind heute auch etliche andere Ausländer. Bulgaren, Brasilianer und Ägypter zählen zu den Publikumslieblingen bei den dreimal jährlich in der Tokioter Ryogoku-Sumohalle stattfindenden Hon-Basho-Turnieren. Dort treten die besten Schwergewichte unter dem frenetischen Jubel des Publikums gegeneinander an.

"Unter jungen Japanern ist es nicht mehr populär, ein Sumo zu werden", sagt Ryoji Matsumoto, Batjargals Trainer. "Sie wissen, welche enormen Entbehrungen das mit sich bringt." Die Ausbildung zum Sumo folgt einem strengen Tagesablauf nach jahrhundertealter Tradition. "Aufstehen um sechs Uhr. Der Tag ist unterteilt in Trainingseinheiten und zwei Mahlzeiten", erklärt Ryoji. "Um zehn Uhr abends schließen wir das Tor." Für die jungen vergnügungssüchtigen Tokioter klingt das nicht gerade nach einem Traumjob. "Wir haben ein echtes Nachwuchsproblem", sagt Ryoji.

Nackte Geishas

Manche Traditionsverbände suchen per Facebook nach Neueinsteigern, doch viele junge japanische Ringer geben schnell wieder auf. Die Zukunft gehört auch in Japan dem Fußball. In den letzten Jahren haben viele Ausländer die Lücken besetzt, um den Mangel an japanischen Sumotoris auszugleichen. Erst waren es Hawaiianer, jetzt sind es Mongolen. Dieser Entwicklung ist eine leidenschaftliche Diskussion vorausgegangen, wie japanisch ein Sumo sein müsse. Die Reformer setzten sich durch. "Zwar darf noch immer nur ein Ausländer pro Einheit antreten", sagt Ryoji, "aber auch das könnte sich in Zukunft ändern."

Sumo ist nicht die einzige japanische Lebenswelt, der der einheimische Nachwuchs verlorengeht. "Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Sumotoris und Geishas. Manchmal werden die Ringer nackte Geishas genannt, weil beide einer strengen Hierarchie folgen", sagt Sayuki. Sie ist die erste nichtjapanische Geisha in der Geschichte des Landes.

In die Tradition eingewiesen

Gerade kommt sie von einem Drehtermin mit einem ausländischen Fernsehteam zurück. Sie trägt einen feinen cremefarbenen Kimono, den sie mit der traditionellen, Obi genannten Stoffschärpe umgürtet hat. In einer Gasse in ihrem Viertel Fugakawa drehen sich die Leute nach ihr und ihrer japanischen Auszubildenden Sasane um und machen Fotos mit den Smartphones. Geishas in Ausbildung werden in Japan Maikos genannt. Die Maiko von Sayuki hat das Gesicht bis zum Nacken puderweiß geschminkt, in ihre schwarze Perücke hat sie zarte Kränze aus bunten Seidenblumen geflochten. Sayuki zupft ihr hin und wieder am Haarschmuck oder streicht den Kimono zurecht.

Kaum eine Biografie kann die Rolle von Ausländern für die Wiederbelebung japanischer Kultur eindrucksvoller erzählen als jene Sayukis. Als 15-Jährige kam die australische Austauschschülerin Fiona Graham zum ersten Mal nach Japan. Als Studentin und Doktorandin der Sozialanthropologie in Oxford beschäftigte sie sich mit der japanischen Gesellschaft und wurde schließlich von einer Geisha-Mutter im Stadtteil Asakusa in die 400 Jahre alte Tradition der Unterhaltungskünste eingewiesen.

Dramatisch verändert

Inzwischen hat sie ihren festen Wohnsitz in Japan, und sie hat ihren alten Namen abgelegt. Unter Tokios Geishas war die Aufnahme der Australierin ein umstrittener Schritt. Eine Ausländerin unter ihnen, das brach mit dem hochkomplexen Selbstverständnis. "Anders als ein Sumo muss die Geisha als Unterhaltungskünstlerin perfekte Sprach- und Kulturkenntnisse mitbringen. Das macht eine Aufnahme für Ausländerinnen schier unmöglich", sagt Sayuki.

In der Blütezeit vor etwa 100 Jahren habe es in Japan 80.000 Geishas gegeben, erzählt sie, heute seien es weniger als 2.000. Vor allem ausländische Touristen hätten in letzter Zeit in Tokio und Kioto die Nachfrage nach Geisha-Auftritten wiederbelebt. Japan habe sich dramatisch verändert und werde immer westlicher, alte Traditionen würden verschwinden. Doch nun begännen viele Japaner, ihre Kultur neu zu entdecken – wegen der der Touristen.

Hunderte Jahre alt

Im Fukagawa-Viertel hat Sayuki eine Tradition wiederbelebt, die schon fast erloschen war. Seit 20 Jahren traten dort keine Geishas mehr auf, dabei gab es früher 60 Geisha-Häuser. Durch Zufall fand sie eines dieser Häuser und unterrichtet nun junge Maikos in Tanz, Gesang, traditionellen Musikinstrumenten und dem untadeligen Auftreten, das sich für eine Geisha gehört. "Sie ist die Zukunft des Viertels", sagt Sayuki über ihre Auszubildende. "Für die pensionierten Geishas, die noch hier leben und ihr Wissen weitergeben, ist sie wie eine wunderschöne Blume, die nun wieder blüht."

Vom Zentrum Tokios karrt der Sobu-Schnellzug Pendler vorbei an Hochhäusern und dem alles überragenden Skytree, dem zweithöchsten Bauwerk der Erde, in ihre Wohnorte im Osten der Millionenmetropole. Inmitten des geschäftigen Stadtbezirks Edogawa verbirgt sich hinter einem einfachen Holztor ein Garten mit einem Koi-Fischteich, der sich von Tokios zahllosen Parks und penibel gepflegten Grünanlagen durch ein kleines Detail unterscheidet: Seine Bäume sind hunderte Jahre alt, aber selten höher als einen Meter.

Fit mit Mini-Bäumen

Der Shunkaen-Bonsaigarten beherbergt einige der kostbarsten Miniaturbäume Japans. "Dieser hier ist rund tausend Jahre alt und 100 Millionen Yen wert", sagt Toshio Uematsu. Das sind in etwa 760.000 Euro. Der 80-jährige Japaner schnipselt gerade mit einer Heckenschere an einem eigenwillig geformten Wacholder. "Der Stamm ist wie ein Knochen, aber er ist lebendig", sagt Uematsu. Sein fortgeschrittenes Alter sieht man dem Bonsai-Gärtner kein bisschen an. "Wer sich mit alten Bäumen beschäftigt, bleibt jung", sagt er, während er einen alten Fächerahorn wässert. "Ich bin fit, Rückenschmerzen kenne ich nicht."

Seit über 45 Jahren arbeitet Uematsu im Garten des weltbekannten Bonsai-Künstlers Kunio Kobayashi. Der japanische Großmeister ist heute viel auf Auslandsreisen unterwegs, um in aller Welt über die Kunst zu referieren, aus unscheinbaren Baumsetzlingen langlebige Meisterwerke zu kreieren.

Wie ein erstarrtes Totenhemd

Im Shunkaen-Garten lassen sich gut eintausend wertvolle Zwergbäume bestaunen. Keiner ähnelt dem anderen. Einige haben die knorrigen Äste wild zur Seite gedreht, als hätten sie erbarmungslose Winde jahrzehntelang geformt. Bei anderen ist der bleiche Stamm wie ein erstarrtes Totenhemd geformt, ein wenig so, als habe ein Bildhauer vor Urzeiten eine Skulptur begonnen und nie fertiggestellt, aus der nun junge Zweige in frischem Grün wuchern.

In den Werkstätten, die an den Garten angrenzen, zwingen Kayobashis Schüler die Äste von jungen Kiefersetzlingen mit dünnen Drähten in ein enges Korsett. Uematsu klagt: "Heute sind die meisten, die sich für Bonsais interessieren, Ausländer. Junge Japaner beschäftigen sich lieber mit Computerspielen. Ihre Väter fragen sich zu Recht: Wer kümmert sich einmal um meine Bonsais, wenn ich sterbe?"

Hoffnung auf Interesse

Selbst die Kinder und Enkel des Bonsai-Promis Kobayashi zeigen wenig Interesse am Erbe des berühmten Baumbändigers. Stattdessen scharen sich junge Chinesen, Amerikaner und Europäer um den Meister und tragen sein Wissen in ihre Heimatländer. Einige von Kayobashis Jüngern wie der Engländer Peter Warren und der Deutsche Valentin Brose gelten inzwischen selbst als gefragte Experten in der internationalen Bonsai-Community.

"Es wird eine Zeit dauern, bis die japanische Jugend wieder Interesse an Bonsais entwickelt. Wenn es so weit ist, müssen sie allerdings nach China fliegen, um dort Bäume zu kaufen", glaubt Uematsu. Er wirkt dankbar, dass unterdessen junge Ausländer die alte Kunst erlernen. Wenn deren Bonsais irgendwann einmal zu Kunstwerken gereift sind, werden sich vielleicht auch wieder junge Japaner an die Kulturtechnik ihrer Urgroßväter erinnern. So jedenfalls hofft es Toshio Uematsu. (Win Schumacher, RONDO, 22.6.2018)