Hanno Millesi, "Die vier Weltteile". € 18,- / 152 Seiten. Edition Atelier, Wien 2018

Foto: Edition Atelier

Im Museum gelten landläufig ein paar einfache Regeln: Auf der einen Seite hängen die Bilder an der Wand, auf der anderen stehen wir. Dazwischen liegt eine gewisse Distanz, damit es nicht zu Übergriffen jedweder Seite kommt; alles das in einer leicht sedierenden Schutzatmosphäre aus interesselosem Wohlgefallen. Unter diesen Umständen erhalten die Bilder (wie man mit Musil sagen kann) mit der Zeit eine Art aufmerksamkeitsabweisender Imprägnierung, und weil man so auch nur sieht, was man ohnehin erwartet, sieht man bald gar nichts mehr.

In Hanno Millesis Büchern wird diese Imprägnierung, diese wohletablierte Distanz zwischen uns und der Kunst immer wieder durchstoßen. Da schreitet etwa ein Museumswächter, inspiriert und unterstützt von den ihn umgebenden Werken moderner Kunst, zur Mordtat; da erhält ein Autor nächtens Botschaften von längst verstorbenen Surrealisten, denen man offenbar auch posthum nicht über den Weg trauen sollte; da finden sich die Helden mancher Texte unvermittelt in absurden Verrenkungen wieder, die verdächtig nach Wiener Aktionismus aussehen (siehe etwa: Das innere und das äußere Sonnensystem, und zuletzt: Der Schmetterlingstrieb) .

Kunst und Leben

Erzählt werden solche Geschichten im Ton höflicher Zurückhaltung, was oft im komischsten Gegensatz zu dem Irrsinn steht, der da eigentlich vor sich geht. Die verschrobenen Ästheten, die hier auf so naive Weise mit der Kunst umgehen, werden meist selbst Opfer der Handgreiflichkeit dieses Umgangs. Ihr Unglück ist dann ein hintergründiger Kommentar auf das Leitmotiv der Avantgarde: die Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben.

Aus diesem Anspruch generiert Millesi die Spielanordnungen seiner Texte, und man kann gut sagen, dass sich dieses Thema durch sein Werk zieht. In seinem aktuellen Roman nimmt es allerdings eine neue Qualität an: Der im Kunsthistorischen Museum angesiedelte Roman Die vier Weltteile ist ein eminent kluges und gewitztes Buch über unser Verhältnis zur Kunst, zu Bildern – und gleichzeitig ein Roman über den Einbruch des Terrors in die Normalität, eine gesellschaftspolitische Parabel und eine hintergründige Reflexion über unser europäisches Selbstverständnis. Bildbetrachtung, das lernt man hier, kann ein lebenswichtiges Geschäft sein.

Es geht also um das Kunsthistorische Museum: Ein Icherzähler und seine Begleiterin sind dort mit vier Kindern unterwegs. Die Erwachsenen weisen Kennzeichen der sogenannten Bildungsschicht auf, die Kinder sind nicht ihre, sondern geborgt und machen insgesamt einen ausgesprochen gescheiten und fantasiebegabten Eindruck. Sie haben noch nicht diesen routinierten Museumstourismusblick, unter dem die Bilder all ihre Seltsam- und Schrecklichkeiten, alles Widersprüchliche und Verführerische einbüßen.

Wenn die kindlichen Betrachter erst einmal in den gemalten Landschaften verlorengehen oder sich in die Ungeheuerlichkeiten vertiefen, die da oft nur am Rand der Bilder zu sehen sind, wenn sie den Finger auf die zweifelhaften Aspekte dieser Bilder legen (im übertragenen Sinn; sie sind sehr gut erzogen), ist es nicht so einfach, das in pädagogisch wertvolle Bahnen zurückzulenken; also werden die Erwachsenen bald recht nervös.

Religiöses Attentat im Erdgeschoß

Zeitgleich, so die Ausgangslage des Romans, findet im Erdgeschoß des Museums ein religiöses Attentat statt, das blutig scheitert. Oben weiß niemand genau, was vorgeht, und trotz der sich ausbreitenden Verunsicherung und weil ihnen kaum eine Wahl bleibt – das Stockwerk wird aus Sicherheitsgründen abgeriegelt -, tun die beiden Erwachsenen mit ihren Schützlingen vorerst einmal, wozu sie gekommen sind, und sehen sich Bilder an.

Eine Art Dekameron der Bildbetrachtung also, in dem Millesi die Bildwelt des Kunsthistorischen Museums mit etwas konfrontiert, das in diesem Zusammenhang interesselosen Wohlgefallens eigentlich gar nicht vorkommen kann: mit Politik, Religion, Gewalt, mit dem derzeit ständig tagesaktuellen Phänomen des Terrorismus. Unter den irritierten Blicken ihrer Betrachter verlieren dabei die Gemälde alles Vertraute: Die Abbildungen erhalten auf unheimliche Weise Wirklichkeit, der reale Terror blitzt plötzlich in verschiedenen Abschattungen immer wieder auch in den Bildern auf.

Indem diese Bilder von Millesis Figuren miss-, oder richtiger: neu verstanden werden, zeigt sich, dass keine der altbewährten Bilddeutungen selbstverständlich ist. Denn eigentlich, so könnte man das formulieren, gehören zwar diese Kulturgüter zum Fundament "unseres" westlichen bzw. europäischen, bürgerlichen und säkularen Selbstverständnisses.

Illustration des gegenwärtigen Terrors

Nun aber stellt sich die Frage, ob man sie vielleicht des Wesentlichen beraubt, wenn man nicht wie die Kinder ihre Blutrünstigkeit und Rätselhaftigkeit sieht und wenn man nicht anerkennt, dass sie nicht nur Kunst, sondern auch religiöse Überzeugungen darstellen. Wenn die Kinder im Text wissen wollen, ob alle Museen früher Kirchen waren, dann ist das die richtige Frage. So werden dort, wo man sonst Pinselführung und Bildkomposition bewundert, Fanatiker, Märtyrer, religiöse Opferungen sichtbar, wird aus Mantegnas Heiligem Sebastian ein Mordopfer und Eiferer, aus Giordanos Erzengel Michael ein blasierter Gewalttäter und so fort.

Was da auf subtile Weise vor sich geht, ist so faszinierend wie unerhört: Unser altgedientes Kulturgut illustriert plötzlich, unter anderem, den ganz gegenwärtigen Terror. Für all das muss der Millesi'sche Erzähler nicht einmal nennenswert aus seinem ruhigen, unmerklich ironischen Duktus fallen, und während wir uns über die herrliche Respektlosigkeit freuen dürfen, mit der man hier den alten Meistern zu Leibe rückt, bleiben die verstörenden Gesten des Romans meist subtil.

Der Held und seine Begleiterin sind derweil ohnehin ausgelastet: mit den gefährlichen Fragen der Kinder, mit der Suche nach dem nächsten Ausgang, mit den zunehmend seltsamen Bildern, die da plötzlich an der Wand hängen. (Bernhard Oberreither, 21.6.2018)