Der gebürtige Österreichischer Martin Hairer ist ein international anerkannter Mathematiker in einem Fachbereich, der sicher Stirnrunzeln verursacht: Sein Gebiet ist das der stochastischen partiellen Differenzialgleichungen, das sind Gleichungen, die Objekte beschreiben, die von Raum und Zeit abhängen und zufällig sind. Nehmen wir etwa eine Wasserflasche: Man schaukelt die Flasche und kann die Bewegung des Wassers mithilfe der Navier-Stokes-Gleichung beschreiben, benannt nach Claude Louis Marie Henri Navier und George Gabriel Stokes. Diese Berechnungen sind schon sehr alt. Dieser Zufall kann aber auch gewissermaßen "intern" entstehen. Das ist bei einem Magneten so, der, wenn er erhitzt wird, die Magnetisierung verliert. Das Magnetfeld schwankt, die Schwankungen sind zufällig. Die Gleichungen können das zwar beschreiben, sie werden aber, wie Experten sagen, "rau". Dann wird nicht mehr klar, was es überhaupt bedeutet, eine Lösung zu haben. Und Hairer hat diesen Gleichungen wieder Sinn gegeben. Dafür erhielt er 2014 die Fields-Medaille, eine Art Nobelpreis für Mathematiker, die noch nicht 40 sind.

Martin Hairer ist seit kurzem am Londoner Imperial College.
Foto: University of Warwick

STANDARD: Was dachten Sie bei der Verleihung der Medaille?

Hairer: Natürlich habe ich mich gefreut, ich war überrascht, ich war aber auch besorgt, dass die Öffentlichkeit nun von mir erwartet, mathematische Fragen immer und überall erklären zu müssen.

STANDARD: Man muss ja nicht gleich in die Fußstapfen von Mathematik-Volksvermittler Rudolf Taschner treten, wenn man das eigene Fach in der Öffentlichkeit populärer macht.

Hairer: Nein, das wäre auch nicht mein Ziel. Ich rede gern über meine Arbeit, ich sehe mich aber nicht als der Experte für Rechnungen aller Art. Ich bin Mathematiker, mache in erster Linie Forschung und Lehre an der Hochschule. Ich würde mich aber nicht als Vermittler sehen, um Mathematik immer und überall an die Öffentlichkeit zu bringen.

STANDARD: Sie werden aber als Österreichs höchstdekorierter Mathematiker sicher mitunter gefragt, warum es vielen Schülern offenbar so schwerfällt, das Fach zu erlernen. Was sagen Sie dann? Warum ist Mathe so unbeliebt?

Hairer: Das ist kein spezifisch österreichisches Phänomen. Ich will keine Pauschalkritik an den Lehrern üben, habe aber den Eindruck, dass es sehr auf die Art der Vermittlung ankommt. Viele Schüler glauben, dass die Mathematik vom Himmel runterfällt wie etwas, das man akzeptieren muss und nicht begründen kann. Mit dieser Vorstellung kann keine Freude am Fach entstehen. Man muss die Schüler wahrscheinlich selber nachdenken lassen, man muss zulassen, dass sie ganz neue Ideen haben, sie aber ein bisschen lenken, damit sie sich gedanklich nicht vollkommen verirren. Ich versuche diesen Weg in Einführungsvorlesungen zu gehen. Man muss das fördern: Das Wichtigste an der Mathematik ist das eigenständige Denken, sonst muss man viel auswendig lernen. Dann wird es mühsam.

STANDARD: Jahrelang hat man gehört, dass man Schülern die Anwendung von Mathematik näherbringen muss, das wäre die Lösung gegen Lernblockaden. Funktioniert also reines Denken doch auch?

Hairer: Ich denke schon. Ich habe einmal eine Stunde mit Schülern in Deutschland verbracht, die waren vielleicht 16, maximal 17 Jahre alt und sehr interessiert an mathematischen Fragen, die gar nichts mit Anwendung zu tun hatten. Zum Beispiel diskutierten wir über die Frage , warum die Unendlichkeit der ganzen Zahlen kleiner ist als die Unendlichkeit der reellen Zahlen. Eine schon recht abstrakte Frage. Sie werden es nicht für möglich halten: Man kann Schülern in diesem Alter zeigen, warum das so ist.

STANDARD: Sie selbst hatten ja offenbar kein Problem, sich zur Mathematik zu motivieren?

Hairer: Mein Vater Ernst Hairer ist Mathematiker , das hilft schon ungemein. (lacht) Darum habe ich im Hauptfach theoretische Physik und nicht Mathematik studiert: Man muss ja schließlich seinen eigenen Weg gehen und den Kopf durchsetzen. Ich habe aber bei allem Interesse am Fach gemerkt, dass das für mich nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Das liegt vor allem an der Kurzlebigkeit der theoretischen Physik. Ich wollte, um es offen zu sagen, keine Arbeit schreiben, über die Kollegen nach fünf Jahren sagen können, dass sie zu vergessen ist. Wenn man in der Mathematik etwas beweisen kann, dann gelten diese Ergebnisse für alle Ewigkeit. Was die alten Griechen gesagt haben, gilt bis heute. Der Unterricht in der Schule besteht heute hauptsächlich aus Beweisen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Daran sieht man schon: Jede Forschungsarbeit in der Mathematik hat ewige Gültigkeit, es sei denn, sie enthält einen Fehler.

STANDARD: Ist die Mathematik nicht auch die wesentlich angenehmere Wissenschaft, was den Druck betrifft, sich als Wissenschafter beweisen zu müssen?

Hairer: Als Mathematiker hat man weniger Druck punkto Quantität, das stimmt. Das heißt aber nicht, dass der Druck in Sachen Qualität nicht genauso groß ist wie bei theoretischen Physikern. Auch wir werden einem Peer-Review-Verfahren unterzogen, wir können uns nur ein wenig mehr Zeit lassen. In Großbritannien ist es etwa eine Arbeit pro Jahr, die dann bewertet wird. Daneben gibt es natürlich auch Druck von der Universitätsadministration, Drittmittel einzuwerben. Das ist aber in allen Wissenschaftsbereichen vergleichbar ähnlich.

STANDARD: Als Wissenschafter haben Sie sicher viele Kollaborationen mit anderen Ländern, auch mit Ländern innerhalb der EU. Fürchten Sie, dass sich durch den Brexit einiges ändern wird?

Hairer: An der Zusammenarbeit wird sich sicher nichts ändern, die gibt es völlig unabhängig von der EU auch mit Mathematikern in den USA. Ich selbst werde auch keine Probleme haben, weil ich mittlerweile englischer Staatsbürger bin, Also ich brauche mir keine Sorgen machen wegen eines Visums. Es ist nur die Frage, ob wir als Wissenschafter zu europäischen Forschungsprogrammen zugelassen sind, beispielsweise zu den Grants des Europäischen Forschungsrats ERC. Das wäre natürlich wichtig, das wissen wir aber nicht. Wenn man Politiker in Großbritannien fragt, dann erhält man den Eindruck, dass sie es auch nicht wissen, dass sie sogar nicht mal wissen, was sie wollen. (Peter Illetschko, 14.6.2018)