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Wahlkampf vom Gefängnis aus: Selahattin Demirtaş ist seit November 2016 wegen Terrorvorwürfen in einem Hochsicherheitsgefängnis in Edirne in Untersuchungshaft. Der früher Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Völker (HDP) verlor seine Immunität als Parlamentsabgeordneter. Er tritt zum zweiten Mal bei Präsidentenwahlen gegen Tayyip Erdoğan an.

AP/HDP

Der Wasserkocher ist sein bester sonderbarer Freund geworden. Keine Wunderlampe, an der Selahattin Demirtaş reiben könnte, um aus seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne im europäischen Teil der Türkei zu entkommen. Aber doch ein Werkzeug, um sich über die Staatsmacht lustig zu machen. Die hält den charismatischen Oppositionspolitiker seit bald 20 Monaten in Untersuchungshaft und muss nun seine Präsidentschaftskandidatur hinnehmen.

Zwei Schüler sind diese Woche festgenommen worden, weil sie Demirtaş' Wasserkocher auf eine Hausmauer in Istanbul gezeichnet hatten. So wichtig ist das Haushaltsgerät mittlerweile geworden. Verbreitung von Terrorpropaganda lautet der Vorwurf gegen die Jugendlichen. Denn Demirtaş und seine prokurdische Minderheitenpartei HDP entscheiden bei den Wahlen am 24. Juni über Sieg oder Niederlage von Tayyip Erdoğan, dem autoritär regierenden Staatschef der Türkei.

Er könne ja bekanntlich Twitter-Meldungen mit seinem Wasserkocher absetzen, aber bei Whatsapp versage der "ketil", wie der Kocher auf Türkisch heißt, so witzelte Demirtaş dieser Tage in einem handgeschriebenen Brief an die Wähler, der über die sozialen Medien in der Türkei verbreitet wurde. Verärgert über die vielen Tweets des 45-Jährigen hatte die Regierung seine Zelle durchsuchen lassen. Ein Mobiltelefon konnten die Wächter nicht finden. Das einzige elektrische Gerät war eben der Wasserkocher. Demirtaş schreibt seine Tweets auf und gibt die Nachrichten an seine Anwälte weiter, die sie dann unter seinem Namen veröffentlichen.

Pressekonferenz aus der Zelle

So funktionierte auch die Pressekonferenz, die Demirtaş am Freitag gab. Journalisten tippten Fragen, die Anwälte gaben sie Demirtaş und begannen Freitagmittag mit der Aussendung der Antworten über Twitter, Facebook und Instagram. Der Kandidat gab sich oft bitter-ironisch. Vor dem Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr gab es eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe, erinnerte ein Fragensteller. Nun ist das Thema einer Generalamnestie im Umlauf; der Parteichef der rechtsgerichteten MHP und Erdoğan-Verbündete Devlet Bahçeli hat es aufgebracht. Was Demirtaş davon hält? Nur leeres Gerede. "Ich glaube, es werden Todesstrafe und Amnestie zusammen herauskommen. Nachdem die Häftlinge aufgehängt worden sind, werden sie überall begnadigt", antwortete Demirtaş in seiner Pressekonferenz.

Bei anderen Fragen war der Kurdenpolitiker positiver. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU zum Beispiel würde er nach einem Wahlsieg wieder eröffnen, so sagte Demirtaş, und dabei rasch Reformen für die Wiederherstellung der Menschenrechte, Demokratie und der Unabhängigkeit der Justiz veranlassen.

Immunität aberkannt

Der ehemalige Kovorsitzende der HDP hatte 2016 seine parlamentarische Immunität verloren, ebenso wie ein großer Teil seiner Fraktionskollegen. Im November jenes Jahres wurde er dann verhaftet. Mehr als 50 Verfahren sind gegen den Kurdenpolitiker in Gang. Der Hauptvorwurf sind die gewalttätigen Demonstrationen von Kurden im Herbst 2014. Demirtaş hatte zu den Protesten aufgerufen. 31 Menschen starben bei den Zusammenstößen mit der Polizei in türkischen Städten. Auslöser war die Schlacht um die syrisch-kurdische Stadt Kobane. Während die USA den Kurden gegen die angreifende Terrormiliz "Islamischer Staat" zu Hilfe kamen, schaute die türkische Armee an der Grenze zu. Das verbitterte wiederum die Kurden auf der türkischen Seite.

Demirtaş tritt bereits zum zweiten Mal bei Präsidentenwahlen an. 2014 landete er einen Achtungserfolg, als er 9,7 Prozent und knapp vier Millionen Stimmen erhielt. Umfragen sagen ihm auch dieses Mal trotz der Kandidatur aus der Gefängniszelle ein ähnliches Ergebnis voraus. 10,1 Prozent errechnete das Meinungsforschungsinstitut Gezici in einer am Freitag veröffentlichten Umfrage. Erdoğan verpasste demnach mit 48,7 Prozent nur knapp einen Wahlsieg noch in der ersten Runde. Der Kemalist Muharrem İnce käme auf 25,8 Prozent und stünde Erdoğan in der Stichwahl gegenüber. Die Rechtspolitikerin Meral Akşener würde mit 14,4 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz landen. Kurdische Wähler mögen in einer Stichwahl am 8. Juli eher İnce als Akşener gegen Erdoğan unterstützen; ob es deshalb für einen Sieg über den amtierenden Staatschef reicht, ist allerdings sehr fraglich.

Parlamentswahl könnte spannend werden

Mehr Ungemach könnten Demirtaş und seine HDP der politischen Führung in der Türkei aber bei den gleichzeitigen Parlamentswahlen bereiten. Gelingt der HDP erneut der Sprung über die Zehnprozenthürde, schmälert sie entscheidend die Aussichten für Erdoğans konservativ-islamische AKP, auch künftig das Parlament zu kontrollieren. Gezici sagt hier einen knappen Vorsprung der Oppositionsparteien vor dem Bündnis von AKP und rechtsgerichteter MHP voraus. Die kleine islamistische Saadet-Partei, die mit den Kemalisten der CHP und der Guten Partei von Akşener verbündet ist, bemüht sich besonders um konservative kurdische Wähler, die bisher für Erdoğans AKP gestimmt hatten.

Die Regierung versucht offensichtlich, die Stimmabgabe für die HDP und Saadet klein zu halten. So ordnete die nationale Wahlbehörde Ende Mai die Umsiedlung von Wahlbüros aus den mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebieten im Südosten der Türkei an – aus "Sicherheitsgründen". 144.000 Wähler sind davon angeblich betroffen. Sie müssen für die Stimmabgabe eine Reise unternehmen.

Dass Demirtaş seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus führen muss, prangern Erdoğans Herausforderer immer wieder als Feigheit des Staatschefs an. Manche politischen Beobachter wollen in dieser Entscheidung Erdoğans auch einen Fehler sehen. Schon jetzt wird Demirtaş als ein türkischer Nelson Mandela gehandelt, der nach einem Ende der Ära Erdoğan als Symbol der demokratischen Wiedergeburt aus dem Gefängnis käme.

Seinen alle zwei Wochen erlaubten Anruf bei seiner Familie verbrauchte Demirtaş am Mittwoch für eine kurze Wahlkampfrede. Seine Ehefrau Başak in Diyarbakır, am anderen Ende des Landes, lud Eltern und Freunde ins Wohnzimmer und hörte die Rede am Telefon an. Auch diese war als Video für die sozialen Medien bestimmt.

Die Wahlkampfrede im Wohnzimmer.
Gazete Duvar

"Meine Situation ist nur ein Beispiel", sagte Demirtaş. "Heute ist das ganze Land, sind unsere Bürger Opfer der Ungerechtigkeit geworden." Die ganze Türkei sei in ein halboffenes Gefängnis umgewandelt worden.

Zweimal wird der Kurdenpolitiker nun aber aus dem Gefängnis herauskommen: Am 13. und am 22. Juni wird der Präsidentenkandidat unter Bewachung nach Ankara geflogen. Dort darf er beim Staatssender TRT einen jeweils zehnminütigen Wahlspot aufnehmen. (Markus Bernath, 8.6.2018)