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4. Juni 1938, Parc des Princes, Paris: Die deutsche Startelf mit fünf Österreichern (Kapitän Hans Mock, Goalie Rudolf Raftl, Willibald Schmaus, Willy Hahnemann und Hans Pesser) war sich ihres Achtelfinalsieges über die Schweizer gewiss, sollte sich aber sehr täuschen.

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Riegel-Schmied Karl Rappan, hier 1957 als Trainer des WAC.

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Paris – Das Auftaktspiel zur Endrunde der dritten Fußball-WM schien eine g'mahde Wies'n. Das nunmehr auch ballesterisch sich groß wähnende Deutschland – gleich im März begann bekanntlich die Fusion von deutscher Schnörkellosigkeit und wienerischem Schnörkelreichtum – traf im Pariser Prinzenpark auf die kleine, im Fußballsport bisher eher unauffällig gewesene Schweiz.

Alles andere als ein unumstrittener Aufstieg der Deutschen ins Viertelfinale – 16 Mannschaften waren für Frankreich qualifiziert, Österreich fehlt aus obgenanntem Grund – wäre eine Riesenüberraschung gewesen. Und genau die geschah dann auch. Am 4. Juni 1938, Pfingstsamstag war es, zwangen die Schweizer die Deutschen mit 1:1 in die Verlängerung. Das Resultat hielt dort. Weil es damals noch kein Elferschießen gegeben hat, erstritten sich die Eidgenossen ein Wiederholungsmatch am 9. Juni. Und dort warfen sie die Deutschen mit 4:2 recht deutlich aus dem Bewerb.

Es wird schon so gewesen sein, dass die Deutschen die eidgenössischen Exoten etwas unterschätzt haben. Und es wird auch so gewesen sein, dass die überstürzte und von keiner Fachkenntnis getrübte Zusammenführung der deutschen und der wienerischen Spielauffassung den Teammotor zusätzlich ins Stottern gebracht hat.

Ausgefuchste Taktikvariante der Schweizer

Aber die Eidgenossen haben dem übermächtigen Nachbarn auch eine sehr ausgefuchste Taktikvariante entgegengestellt. Den Schweizer Riegel. Erdacht hat sich das der seit 1931 bei Servette Genf und seit 1937 beim Team tätige Wiener Karl Rappan, der den Eidgenossen damit eine zukunftsweisende, flexible Defensivtaktik auf den Leib schneiderte.

Rappans Riegel – Verrou nannte man die Spielanlage in der Romandie, immerhin war diese erstmals bei Servette in Gebrauch – war eine defensive Interpretation der mitteleuropäischen Spielauffassung. Die englisch-nordeuropäische Variante – das von Herbert Chapman schon in den 1920ern für Arsenal entworfene 3-2-2-3 des WM-Systems, war streng positions- und mannorientiert. Rappan, der in Wien bei Wacker, Rapid und der Austria das Fußballhandwerk gelernt hatte, verteidigte flexibler. Dafür gleich mit fünf, notfalls sieben Defensiven.

Der Riegel setzte hinter eine Dreierabwehr einen "Ausputzer". Rappan darf darum auch als Erfinder des Liberos gelten; Franz Beckenbauer hat die Rolle bloß mit Eleganz geschmückt. Vor der Abwehr agierte ein Vorstopper, eine Art Sechser. Libero und Vorstopper verschoben sich entlang der mannorientierten Dreierkette je nach Bedarf, schufen in Ballnähe Überzahlsituationen und schlossen so den Riegel erst richtig. Um dann selber in Windeseile ins Konterlaufen zu gelangen.

Zusammengewürfelt

Auf so etwas war kaum jemand vorbereitet. Die Deutschen schon gar nicht. Ein Sportführer – DFB-Chef Felix Linnemann oder Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten – hatte angeschafft, Wiener und deutsche Kicker im Verhältnis 5:6 zusammenzuwürfeln. Jedes Team für sich wäre wohl besser mit der Rappan'schen Neuerung zurechtgekommen. Österreich hatte seine Schwächephase nach Ende des klassischen Wunderteams überwunden. Deutschland hatte mit der "Breslau-Elf" – nach dem 8:0 gegen Dänemark in Breslau (heute Wroclaw) im Mai 1937 folgte eine Siegesserie bis zum 3:6 in der WM-Vorbereitung gegen England – selbst eine Art Wunderteam.

Dieses großdeutsche Team aber, dessen Zusammensetzung mehr einem bürokratischen Akt folgte als einer Trainerüberlegung, war chancenlos. Es ist anzunehmen, dass Reichstrainer Sepp Herberger 1938 in Paris zwei Spiele lang jener Satz durch den Kopf ging, der ihm bei seiner nächsten WM, 1954 in der Schweiz, als Motto dienen sollte: "Elf Freunde müsst ihr sein."

Die beiden WM-Spiele 1938 haben auch gezeigt, dass sich der Riegel keineswegs in jenem Mauern erschöpft, als das er verunglimpft wurde. Denn neben den fünf Defensiven agierten ja ein Zweiermittelfeld und ein Dreimannsturm. Zu diesen fünf Offensiven rückte im Angriffsfall der Vorstopper auf, sodass sich also im gelingenden Fall ein Umschaltspiel entfalten konnte, das es in sich hatte. In beiden Partien lief die Schweiz einem Rückstand nach, der sich durch bloßes Mauern ja nicht wettmachen ließ.

Am 4. Juni brachte der Koblenzer Josef Gauchel das vom violetten SA-Mann Hans Mock angeführte Team in der 29. Minute in Führung. André Abegglen vom FC Sochaux glich knapp vor der Halbzeit aus. Dabei blieb's, was den Rapidler Hans Pesser – der als Trainer nach dem Krieg Ernst Happel zum "Ausputzer", Max Merkel zum Vorstopper machte und das Ganze "brasilianisches System" nannte – so entnervte, dass er nach einem Revanchefoul in der 96. Minute vom Platz flog.

Torschütze Alfred Bickel

Noch deutlicher wurde die Offensivqualität der Riegel-Schweizer am 9. Juni im Wiederholungsspiel. Da führte das nun verzweifelt neuformierte Deutschland schon 2:0 durch ein Tor des Admiraners Willi Hahnemann und ein Eigentor des Ernest Lörtscher von Servette. Dann aber übernahmen die Eidgenossen das Kommando. Das Spiel endete 4:2. Den Ausgleich zum 2:2 erzielte übrigens ein Alfred Bickel von den Grasshoppers.

Die Schweiz stieg ins Viertelfinale auf, wo es aber gegen die von Alfred Schaffer gecoachten Un-garn beim 0:2 ohne Chance blieb. Die Ungarn stießen über Schweden (wegen des Ausfalls von Österreich kampflos ins Viertelfinale gekommen) ins Finale vor. Dort unterlagen sie Italien 2:4, das also seinen Triumph von 1934 wiederholen konnte.

Karl Rappan – als Mitglied der Auslandsorganisation der NSDAP nach dem Krieg als Nazi in der Kritik – ist bis heute erfolgreichster Trainer der "Nati". Dem Viertelfinale von Paris folgte 1954 jene legendäre Hitzeschlacht von Lausanne, aus der Österreich mit 7:5 – torreichstes WM-Spiel der Geschichte – als Sieger, wenn auch als ein schwer gezeichneter, hervorging. Um dann im Halbfinale mit 1:6 gegen Sepp Herbergers elf Freunde unterzugehen.

Die elf Richtigen

Eine Zeit lang erinnerte man sich an den Karl Rappan auch als Namensgeber des 1961 ins Leben gerufenen Rappan-Cups, des späteren Uefa-Intertoto-Cups. Manche Alte gemahnte bei der österreichisch-schweizerischen Heim-EM 2008 auch Josef Hickersberger mit seiner tiefen Einsicht ins Wesen der Besten und der Richtigen an den Austro-Schweizer. Rappan hatte gesagt: "Es geht nicht darum, die elf besten Spieler zu suchen, sondern die einheitlichste Mannschaft zu stellen."

Die tiefsten Spuren hat er aber südlich der Alpen hinterlassen. Denn Karl Rappan, der 1996 90-jährig in Bern gestorben ist, wurde nach dem Krieg eifrig ins Italienische übersetzt. Catenaccio – das heißt ja auch nichts anderes als Riegel. Und den verordnete der argentinische Trainer Helenio Herrera seiner Inter in Mailand. In einer etwas abgewandelten Version, gewiss. Aber nicht minder verschrien als eine Art Abgesang auf das wahre, schöne Fußballspielen. Und das nicht immer ganz zu Recht. (Wolfgang Weisgram, 8.6.2018)