Als in New York lebende Österreicherin werde ich oft unter unerwarteten Umständen auf Österreichs Vergangenheit angesprochen. Erinnerungen an den Holocaust sind in New York omnipräsent und ich hatte im Laufe der vergangenen achtzehn Jahre unzählige, vollkommen zufällige, Begegnungen mit Juden österreichischer Abstammung, die mir die oft sehr traurigen Geschichten ihrer Familien erzählten, sobald sie realisierten, dass ich aus Österreich komme. 

Zum Beispiel die Begegnung mit der etwa 85-jährigen M., die hinter mir in der Metropolitan Opera saß und mir in reinstem Wiener Deutsch die Emigrationsgeschichte ihrer Familie erzählte. Oder L., ebenfalls um die 85 Jahre alt, die neben mir in einem Supermarkt an der Upper West Side stand und sich in perfektem Deutsch vorstellte. Sie sei die L. aus Wien und reise zur Zeit regelmäßig nach Österreich. R. wiederum, bei der ich mein erstes Zimmer in New York mietete, sagte, sie würde nie nach Österreich oder Deutschland reisen, aus Furcht vor antisemitischen Vorfällen. Ob bei einem Abendessen mit Bekannten oder in den Schulen meiner Kinder, die Begegnungen und Erinnerungen sind allgegenwärtig.

Ich denke an Mozart, sie denken an Hitler

Zu meiner Überraschung muss ich feststellen, wie betroffen mich diese Erzählungen machen. Ich entschuldige mich, fühle Scham und Mitschuld, und realisiere, wie nah diese dunkle Zeitspanne in Österreichs Vergangenheit für viele Menschen hier ist und wie unmittelbar die Erinnerungen sind. Nichts, was ich in der Schule über die Kriegsjahre und den Holocaust gelernt habe, hat mich darauf vorbereitet. 

Diese konstante Konfrontation mit der österreichischen Vergangenheit hat mich dazu veranlasst, die Familiengeschichten von drei in New York lebenden Juden mit österreichischen Wurzeln aufzuschreiben. Meine Gesprächspartner umspannen drei Generationen und ich zitiere im Text aus Dokumenten, die mir während der Interviews übergeben wurden. Die Gespräche wurden im Juni und im September 2017 geführt.

Fanny als Baby mit ihren Eltern.
Foto: Stella Schuhmacher

Fannys Erinnerungen

Ich besuche die 94-jährige Fanny in ihrer Wohnung an der Upper West Side in Manhattan. Fanny ist in beneidenswerter Verfassung, sowohl körperlich als auch geistig. Sie erinnert sich an die kleinsten Details ihres Lebens und redet mit großer Eloquenz darüber. Wir unterhalten uns zum Großteil auf Englisch, das sie mit einem deutlichen Akzent spricht – es ist ihre dritte Sprache nach Deutsch und Hebräisch. Gegen Ende sprechen wir Deutsch, welches sie hervorragend und vollkommen akzentfrei spricht. Sie bietet mir Rugelach an, eine jüdische Spezialität, die ich in New York sehr zu schätzen gelernt habe. Ich darf alte Fotos fotografieren und sie gibt mir ein achtseitiges Dokument, das sie vor ungefähr zehn Jahren für eine Rede vorbereitet hat. Die Zitate im folgenden Text stammen aus dieser Rede.

Fannys Schulklasse in Wien.
Foto: Stella Schuhmacher

Fanny wurde in Wien im Jahr 1924 als Tochter polnischer Juden geboren und hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester. Sie wuchs in einem sehr religiösen Umfeld auf. Die Familie lebte im zweiten Bezirk in Wien und besaß ein Lebensmittelgeschäft.

Die Novemberpogrome, Nachbarn und Freunde

In der "Kristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938 wurden Geschäft und Wohnung der Familie geplündert und zerstört. Fanny und ihre Schwester versteckten sich im hintersten Zimmer der Wohnung und verfolgten das Geschehen mit Grauen. Sie kannten einige der Leute, die sich an den Plünderungen beteiligten. Es waren Bekannte und Nachbarn, die sich in dieser Nacht plötzlich gegen sie wandten. Diese Tatsache macht Fanny bis heute zu schaffen und erfüllt sie mit großem Zorn. "These were our neighbors and friends!" wiederholt sie. Auch die Synagoge in ihrer Wohnstraße wurde zerstört. 

In dieser Nacht wurde ihr Vater, zusammen mit vielen anderen Juden, verhaftet. Er hatte allerdings Glück und wurde nach zwei Tagen wieder entlassen. Viele der in dieser Nacht Verhafteten wurden direkt ins Konzentrationslager Dachau geschickt. Die Familie lebte von nun an in großer Furcht, verließ das Haus kaum mehr und versuchte, Wien so schnell wie möglich zu verlassen.

Die Flucht nach Palästina

Fanny war damals 14 Jahre alt und Mitglied in zionistischen Bewegungen. Zu ihrem Glück erhielt sie eine Bescheinigung für die Einreise nach Palästina und wanderte im März 1939 alleine dorthin aus. "This saved my life", sagt sie. Fannys Vater und Schwester reisten nach Antwerpen und Fanny hat sie nie mehr wiedergesehen. Sie wurden in Auschwitz ermordet.

Fannys Einreisedokument nach Palästina
Foto: Stella Schuhmacher

"There was an opportunity to save my sister. Near where they lived there was a convent. The nuns were taking in Jewish girls and they were saved that way. My mother and her two sisters ... were afraid and thought this was too risky. ... My mother had to live with that decision for the rest of her life. In the beginning of 1942, things changed dramatically. My parents and my sister were arrested and put on the train to Drancy, a holding camp. On the way my mother fainted and was removed from the train. That saved her life. My sister tried to no avail to get off the train to assist her. Shortly after they arrived in Drancy they were shipped to Auschwitz. On April 9, 1942 upon arrival they were gassed as far as we know."

Das letzte Foto von ihrer Schwester, Fanny bewahrt es bis heute auf, wurde an deren 13. Geburtstag gemacht.

Fannys jüngere Schwester Klara, die in Auschwitz ermordet wurde.
Foto: Stella Schuhmacher

Als Fanny von ihrer Zeit in Palästina erzählt, glitzern ihre Augen. Sie hat insgesamt acht Jahre dort verbracht. Sie hat dort einige Schulen besucht, im Kibbuz gelebt, und diese Erfahrungen sehr genossen.

"In a way it was a fun trip. We were a bunch of teenagers together with our friends and we had moments not thinking that we had just said good bye to our families and we did not think of tomorrow." 

Emigration nach New York

1947 erfährt Fanny, dass ihre Mutter überlebt hat. Sie reist nach Südfrankreich, wo sie sie zum ersten Mal nach neun Jahren umarmt. Ihre Mutter hat sich sehr verändert und scheint nicht mehr die gleiche Person zu sein. Ende dieses Jahres emigriert Fanny nach New York. 

Nach New York mitgebracht: Diese Kerzenhalter gehörten Fannys Mutter.
Foto: Stella Schuhmacher

Fanny heiratet und bekommt zwei Söhne. Von den schrecklichen Erlebnissen erzählt sie nicht viel, um Kinder und Enkelkinder zu verschonen:

"You are probably wondering what we told our children and grandchildren about our experiences while they were growing up. Actually, we didn’t tell them very much. We wanted to spare them. Nevertheless they heard from their friends that their parents were survivors of concentration camps and had a number tattooed on their arms."

"Wer keine Erinnerung hat, hat keine Zukunft"

Vor einigen Jahren wurde Fanny von der Israelitischen Kultusgemeinde nach Wien eingeladen, wofür sie eine Rede vorbereitet hat. Sie besuchte den zweiten Bezirk, aber von den Gebäuden ihrer Kindheit ist nur mehr eine Schule übrig geblieben. Kontakte mit Österreichern hatte sie auf dieser Reise kaum. Ihr Zorn ist nach wie vor zu spüren. Würde ich einer anderen Generation angehören, sagt sie, sie würde sich nicht mit mir unterhalten. Als ich sie frage, was sie vom momentanen politischen Klima halte, kommt sie auf den Schwiegersohn des amerikanischen Präsidenten zu sprechen. Jared Kushner stammt aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, Trumps Tochter Ivanka konvertierte zum jüdischen Glauben. Fanny findet, dass Kushner mehr Einfluss auf seinen Schwiegervater nehmen und ihn zur Vernunft bringen sollte.

Fannys Dokument endet mit dem Zitat eines italienischen Autors, Primo Levi, der den Aufenthalt im Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat: "Wer keine Erinnerung hat, hat keine Zukunft".

Demnächst hier im Blog: die Geschichten von Eve (65 Jahre) und Aaron (40 Jahre)  (Stella Schuhmacher, 14.6.2018)