Bei der Suche nach Massengräbern werden Bagger eingesetzt, da die Areale, auf denen die Toten vermutet werden, oft sehr groß sind.

Foto: Committee on Missing Persons Cyprus

Wird ein Grab gefunden, legen es forensische Archäologen vorsichtig frei.

Foto: Committee on Missing Persons Cyprus

Im forensisch-anthropologischen Labor werden die geborgenen Skelette untersucht und identifiziert.

Foto: Lukas Waltenberger

Die forensische Anthropologin Sinem Hoşsöz bei der Dokumentierung eines Skeletts.

Foto: Lukas Waltenberger

Ihre Kollegin Maristalla Kyrkimtzi bei der Untersuchung menschlicher Überreste.

Foto: Lukas Waltenberger

Wenn die Knochen mehrerer Skelette durchmischt sind, werden die Knochen einzelner Personen mit anthropologischen Methoden sortiert.

Foto: Lukas Waltenberger

Plötzlich stoppt der Baggerfahrer. Er hat einen verdächtigen Knochen in der Grube entdeckt, der menschlich sein könnte. Bis auf sechs Meter wird an diesem Ort hinuntergegraben. Einer der Archäologen steigt hinunter und gibt Entwarnung: nur ein Tierknochen. Am Ende stellt sich diese Stelle als falsche Information heraus – hier liegt kein Massengrab.

Die forensischen Archäologen des Komitees für vermisste Personen (CMP) in Zypern gehen jedem Hinweis aus der Bevölkerung nach, um Gräber aus dem Zypern-Konflikt der 60er- und 70er-Jahre zu finden und die Personen zu identifizieren. Das erweist sich oft als schwierig, weil sich das Erscheinungsbild der Gegend durch Neubauten und andere Erneuerungen komplett verändert hat und die Augenzeugen deswegen nicht mehr den genauen Ort der versteckten Gräber zeigen können. Oft sind die forensischen Archäologen auch erfolgreich und finden ein Grab. Händisch werden die Skelette dann vorsichtig freigelegt und geborgen.

Toten ihre Identität zurückgeben

Überall auf der Welt arbeiten forensische Anthropologen und Archäologen, um unbekannten Toten ihre Identität wiederzugeben. Neben der Identifizierung von Kriegsopfern, die im Moment im ehemaligen Jugoslawien, in Zypern, Guatemala und im Nahen Osten et cetera aufgearbeitet werden, ist die Arbeit der forensischen Anthropologen auch nach Katastrophen wie einem Flugzeugabsturz, einem Tsunami oder einem Hochhausbrand essenziell. In Zypern wurde zu diesem Zweck unter Mithilfe der Vereinten Nationen das Committee on Missing Persons (CMP) ins Leben gerufen. Türkische und griechische Zyprioten arbeiten hier Hand in Hand, um ihre verstorbenen Landsleute zu identifizieren und so die traumatischen Geschehnisse während des Zypern-Konflikts aufzuarbeiten.

Ich durfte das CMP auf Zypern einige Monate unterstützen und Erfahrungen als forensischer Anthropologe sammeln. Da der Bürgerkrieg und die Identifikation von Kriegstoten oft in den Medien präsent sind, möchte ich in diesem Blogbeitrag nicht auf die politischen Hintergründe der Auseinandersetzung eingehen, sondern aus meinen Eindrücken einen Überblick geben, wie der Arbeitsalltag eines forensischen Anthropologen aussieht.

Untersuchung skelettierter menschlicher Überreste

Nachdem die Überreste geborgen wurden, werden sie schließlich zur Identifikation ins forensisch-anthropologische Labor gebracht. Dieses liegt mitten in der Pufferzone zwischen dem türkisch-zypriotischen Nordteil und der Republik Zypern im Süden. Im Labor werden noch vorhandene Kleidungsreste entfernt, die Knochen vorsichtig gereinigt, sortiert und fragmentierte Knochen so gut es geht wieder zusammengesetzt.

Nach der Reinigung erfolgt die anthropologische Untersuchung, bei der Geschlecht, Alter, Krankheiten und der Zahnstatus bestimmt werden. Später werden diese Informationen mit den Daten der Vermissten abgeglichen. Weiters wird die Todesursache bestimmt. Fast alle Personen wurden Opfer eines gewaltsamen Todes. Schusswunden zählen dabei zu den am häufigsten gefundenen Verletzungen.

Oft ist die Anzahl der Schussverletzungen gar nicht so leicht festzustellen, da der Knochen beim Auftreffen der Kugel splittert und Knochenteile dadurch verloren gehen können. Deswegen wird versucht, jedes noch so kleine Knochenfragment zu finden und dem entsprechenden Areal im Skelett zuzuordnen. Viele Schussverletzungen sind auch am Schädel auffindbar. Hier wird jede einzelne noch so kleine Bruchlinie analysiert. Bei einer Bruchmusteranalyse wird genau nachvollzogen, wie eine Kugel einen Schädel zum Bersten oder einen Knochen zum Splittern gebracht hat. Dabei ist es sogar möglich, bei mehreren Schusswunden in einem Areal herauszufinden, welche Kugel wo den Knochen zuerst getroffen hat.

Emotionale Belastung

Auch wenn viele meiner Kollegen gerne forensisch arbeiten würden – für die meisten Anthropologen gehören Verletzungen und Pathologien zu den spannendsten Sparten –, schaffen es nur die wenigsten, die emotionale Belastung auszublenden. Mir ist mein erster Fall noch sehr gut in Erinnerung geblieben.

Da befand sich noch der Fuß eines jungen Mannes in einer handgestrickten roten Socke, die er vielleicht von seiner Mutter bekommen hatte, damit er in den kalten Nächten warme Füße behält. Ein anderes Mal fanden wir das Skelett eines kleinen Mädchens in einem karierten Kleidchen. Das sind Dinge, die natürlich nahegehen und wo man versuchen muss, professionell zu bleiben und sich abzugrenzen.

Warum die Anthropologie trotz DNA-Tests wichtig ist

Neben den anthropologischen Untersuchungen werden die Knochenproben ins Labor geschickt, um diese mit der DNA-Datenbank der Familien der Vermissten abzugleichen. Mit der DNA-Analyse erfolgt eine Identifizierung der Person.

Aber warum braucht es dann überhaupt Anthropologen, wenn die Personen ohnehin mittels Genanalyse identifiziert werden? Auch wenn die Fehlerwahrscheinlichkeit gegen null geht, kann es immer wieder zu Fehlern durch eine Kontamination, zum Beispiel beim Handling der Knochen durch die Anthropologen oder Archäologen, kommen.

Außerdem wird mit dem Gentest nur die Familienzugehörigkeit bestimmt. Werden beispielsweise zwei Brüder oder ein Vater und sein Sohn vermisst, können die Überreste nur der Familie zugeordnet werden. Es werden also die anthropologischen Daten benötigt, um zwei Personen ein und derselben Familie zu differenzieren.

Familienzusammenführung

Im letzten Schritt werden den Hinterbliebenen die Überreste übergeben. Dabei werden sie auch über die Fundumstände aufgeklärt. Diese Treffen laufen meistens sehr emotional ab, deshalb werden die Angehörigen von einem Psychologen unterstützt.

Ganz oft wird die Frage gestellt: "Musste mein Vater leiden, oder ist er schnell gestorben?", die schwer bis gar nicht zu beantworten ist. Die Anzahl und Verteilung der Schusswunden, in deren Analyse wir Anthropologen viel Zeit investiert haben, interessiert nur die wenigsten; sie sind dennoch wichtige Informationen, um die Geschehnisse im Krieg zu rekonstruieren.

Selbst noch über vier Jahrzehnte später hoffen die Angehörigen, dass ihr geliebtes Familienmitglied doch noch zur Tür hereinkommt. Das macht die Arbeit durch das CMP und andere Organisationen wie auch das Rote Kreuz so wichtig. Durch das Auffinden ihrer Toten können sie meist endlich mit dem schrecklichen Geschehen des Krieges abschließen. (Lukas Waltenberger, 31.5.2018)