Mohamed El Khatibs "Stadium" bei den Wiener Festwochen.

Foto: Wiener Festwochen/Nurith Wagner-Strauss

Mit Schließung der letzten Zeche war es zur Mitte der 1980er um die nordfranzösische Stadt Lens geschehen. Den ganzen Stolz der nunmehr arbeitslosen Kumpel bildete jetzt der RC Lens: ein Fußballklub ohne besondere Eigenschaften. Außer derjenigen, mit proletarischem Trotz und dem Sendungsbewusstsein von Fortschrittsverlierern der Kommerzialisierung von Soccer und Südkurve die Stirn zu bieten.

Es gibt in Europa tausende solcher nie zu kleiner, in Zeiten ungleich verteilter Uefa-Millionen notorisch erfolgloser Klubs. Ihre Parteigänger schließen sich ein in Zeitkapseln. Deren Membrane schützen zuverlässig vor den Zumutungen des Neoliberalismus. Zugleich schillern sie papageienbunt in den jeweiligen Vereinsfarben.

Kultureller Streifzug

Die niedliche Fußballperformance "Stadium" macht im Theater an der Wien mit der Buntheit des RC Lens eindrucksvoll vertraut: Rot-gelb glänzen die Dressen, das Farbprogramm erinnert somit an die spanische Nationalelf. Einen kulturellen Streifzug hat der französische Theatermacher Mohamed El Khatib sich und diversen Fanvertretern verordnet.

Sie alle kommen nacheinander zu Wort in dieser Wiener-Festwochen-Produktion von "Zirlib": der nachdenkliche Freizeit-Hooligan wie der Cheerleader-Papa, die Heldenoma mit 72 Nachfahren ebenso wie der Hochzeitsmuffel. Letzteren plagt die Sorge, der Heiratstermin könne mit dem Matchplan seiner Lieblingsmannschaft kollidieren. Dass die Braut gegenüber dem RC Lens die zweite Geige spielt, hat sie wohl im Voraus gewusst.

Wiener Festwochen

Quer durch alle Verlautbarungen zieht sich der mehr oder minder offen einbekannte Stolz von Menschen, die auf dem symbolischen Feld der Vereinsehre Wurzeln geschlagen haben. Verständlich wird das nur, weil ihnen die ökonomische Entwicklung viele Annehmlichkeiten und noch mehr sinnstiftende Angebote vorenthält.

El Khatibs szenische Anordnung ist wohltuend simpel. Eine Eisentribüne schließt die Bühne nach hinten ab, eine malerische Frittenbude flankiert den Auftritt diverser Hardcore-Fans. Weil sich der Regisseur ethnologisch auch für die gastgebende Kommune interessiert, mengen sich verschiedene Vertreter der Religionsgemeinschaft SK Rapid in das theatralische Aufgebot.

Postindustrieller Abwicklungsfall

Ist das erste Wohlwollen verflogen, gewahrt man mit wachsender Ungeduld das Fehlen jeglicher Plastizität. Lens bildet als postindustrieller Abwicklungsfall das Gegenstück zu diversen Ruhrpottkommunen. Über die lokalen Gegebenheiten erfährt man indes wenig bis gar nichts.

Rasch breitet sich im Betrachter das interesselose Wohlgefühl des Streichelzoobesuchers aus. El Khatib sorgt als freundlich-sparsamer Moderator für die pannenlose Abwicklung der – zumeist simultan übersetzten – Nummernparade. Eine blecherne Fanfare (von Maurice Jarre) erklingt; eine Fahne von der Größe eines Kirchenfensters wird zu Musik von Vivaldi geschwenkt. Wir lernen allerlei Wissenswertes über die (symbolischen) Mordfantasien gedemütigter Schiedsrichter. Das Arbeitsleid der Vereinsmaskottchen wird, nach Lüften des niedlichen Plüschkopfs, herzzerreißend thematisiert. (In der österreichischen Vereinsmaskottchenszene sind einschlägige Fälle von Alkoholismus seit langem überliefert.)

Und so darf man – als heimischer Freund des runden Leders – die lokalen mit den internationalen Erfahrungen abgleichen. Durch das freundliche Engagement des Performancekünstlers Mohamed El Khatib kann sich das Theater wiederum als sozialpädagogische Anstalt bewähren.

In einem einzigen Beitrag eines Fangruppenvertreters flackert kurz das Dilemma einer tendenziell selbstgenügsamen und gelegentlich gewaltbereiten Szene auf. An ihrer sektoriellen Erfassung erprobt der Überwachungsstaat seine Techniken. Das Stadion als "Ausnahmezone" hilft mit bei der Erprobung von Intervention und Ruhigstellung. In "Stadium" werden einschlägige Erkenntnisse nur karg, via Textband, verlautbart.

Wer seine Angst vor "Ultras" jeglicher Couleur abbauen möchte, ist in "Stadium" noch heute, Mittwoch, gut aufgehoben. Ein Pflichtprogramm ist der streichelweiche Abend mit Bierausschank und Frittenausgabe keiner. Der RC Lens schloss die aktuelle Ligue 2 übrigens mit einem wenig schmeichelhaften 14. Platz ab. (Ronald Pohl, 30.5.2018)