Im Ziel sahen wir einander dann mit einer Mischung aus Glückseligkeit, Verzweiflung und Fassungslosigkeit an, Freunde, Bekannte, Teamkollegen und Wildfremde. Hatten wir das gerade wirklich getan? Es geschafft? War es wirklich vorbei? Standen wir wirklich noch auf unseren eigenen Beinen, hörten die Stimme des Platzsprechers, das Wummern der Beats und den Jubel von der Tribüne – und mussten jetzt nicht mehr laufen? Wirklich nicht? Hatten wir diese Blechdinger, die jeder und jede umgehängt bekommen hatte, tatsächlich umgehängt bekommen? Waren die wirklich so viel wert, wie sie gerade wogen? War dieses Gefühl gerade wirklich all die Mühe wert gewesen? Also nicht nur die letzten paar Stunden, sondern auch die Monate davor?

Ja, ja – und nochmal ja.

Aber da war eine große Frage. In fast allen Gesichtern. Und meine Teamkollegin Nina sprach sie aus: "Und in fünf Wochen das Ganze mal zwei? Wie soll das gehen?"

Foto: Stefan Distlberger

Aber der Reihe nach. Schließlich hatte dieser Tag nicht an oder hinter der Ziellinie der Ironmanstrecke in St. Pölten begonnen, sondern früher, viel früher. Um 20 vor vier. Da hatte der Wecker geläutet, Eva sich einmal umgedreht, bevor sie weiterschlief, etwas von "Ihr habt alle so was von einen Poscher" gemurmelt, und ich ihr zugestimmt. Trotzdem war ich aufgestanden: In einer halben Stunde würden Nina und Stefan mich abholen, eine Stunde später, um 5 Uhr 30, würde die Wechselzone hinter dem Stadion öffnen.

Gegen sechs würde die Sonne aufgehen – und die Fahrräder wachküssen, die hier gemeinsam übernachtet hatten: 1.600 – für jeden von uns eines. Durchschnittswert: 4.500 Euro. Konservativ gerechnet. Mal 1.600? Na Servas …

Foto: Irene Weidmann

Nein, billig ist dieser Spaß nicht. Aber: Auch andere Menschen haben teure Hobbys. Doch ums Geld geht es nicht: "You want – you can – you will" gilt, aber das Wollen ist nicht alles. Es ist wie beim Laufen, nur heftiger: Es geht um die Zeit, die man investiert, investieren kann. Nicht an diesem einen Sonntag, an dem man jetzt gleich 1,9 Kilometer schwimmen, 90 Kilometer Rad fahren und dann halt noch einen Halbmarathon runterwuzzeln soll.

Oder halt bei der Volldistanz das Ganze mal zwei. Es geht um die Zeit davor, um das Training: Jeder und jede, die da steht, hat Familie. Freunde, einen oder zwei Jobs. Bringen Sie das mal mit 12 oder 14 Stunden Training pro Woche unter einen Hut. Da muss man nicht nur selbst wollen, also wirklich wollen, da muss auch das Umfeld mitspielen.

Foto: Stefan Distlberger

Und auch dann hat man keine Garantie, das Ziel zu sehen. Eine Kleinigkeit genügt, und man kann ein Jahr Vorbereitung kübeln. Das muss einem klar sein. Auch dass man bei sowas nicht antritt, um zu gewinnen oder einen Stockerlplatz zu machen: Bei kleinen Events schafft man das eventuell in der eigenen Altersklasse – mit Glück und Kalkül. Je kleiner der Event und je älter man selbst, desto eher. Und Frauen, einfach weil (noch) weniger antreten, haben es da eine Spur leichter.

Aber rechnen Sie nicht damit, dass das außerhalb der Blase irgendjemand versteht: Als ich am Sonntag, danach, mein Rad und mein Gepäck in den vierten Stock schleppte (der Lift hatte pünktlich um 16 Uhr am Freitag den Geist aufgegeben), nahm mir mein freundlicher Nachbar eine Tasche und die Luftpumpe ab: "Wievielter bist Du denn geworden?"

Foto: Stefan Distlberger

Die Frage hatte ich bis dahin für einen der Witze in Bulletpoint-Listen und -Videos im Netz gehalten. Wievielter ich geworden bin? Vollkommen egal. Denn ich hatte nur einen Gegner: mich selbst. Und mich selbst habe ich besiegt. Das wusste ich, als ich aus dem Wasser kam: Schwimmen ist meine schwächste Disziplin. In den letzten Wochen war schiefgelaufen, was schieflaufen kann: Der Panikattacke im Mittelmeer waren zwar ein paar brauchbare Einheiten gefolgt, aber beim letzten lockeren Schwimmen, am Freitag, waren mir meine sonst etwa gleich schnellen Teamkolleginnen Moni und Nina auf und davon geschwommen – obwohl ich, gefühlt, gut unterwegs war.

Auch wenn mein Coach Harald Fritz nach dem Rennen meinte, ich sei "beim Schwimmen unter Wert" geschlagen worden: Es war besser gelaufen als befürchtet. Es war richtig, mich selbst in die drittletzte Startwelle zu reihen, defensiv und außen zu schwimmen – und mich selbst zu beobachten: Meine Zickzackschwimmerei, weil ich noch immer nicht gelernt habe, mich richtig zu orientieren. Die ab 800 Metern nach oben rutschende Badehaube. Die dann Wasser fassende Brille. Die dadurch bewirkte De-facto-Blindheit. Der daraus resultierende Mix aus Rhythmusverlust plus noch mehr Zickzack-Schwimmerei: Statt 1.900 Metern war ich 2.200 geschwommen.

Foto: Stefan Distlberger

Nach dem Schwimmen geht es aufs Rad. 90 Kilometer durch eine der schönsten Landschaften der Welt. Dass ich Mitte April bei der Site-Inspection eine Runde mitgefahren war, machte sich heute doppelt bezahlt: Erstens wusste ich, was mir bevorstand. Und staunte gewaltig, um wie viel leichter ich mir tat – obwohl Harald uns genau diesen Sprung in Cesenatico prophezeit hatte.

Zweitens gäbe es sonst hier kein Foto vom schönsten Part des Rennens: Beim Triathlon sind "elektronische Devices" verboten, aus guten Gründen. Ausnahmen gibt es auf Anfrage. Ich hatte gefragt, ein "Ja" bekommen (die Gopro fix am Rad, kein Herumfuchteln, beruflich, blablabla …) und mich vor dem Start wie vereinbart bei der Rennleitung noch gemeldet.

Dort wusste man bereits, dass ich kommen würde. Man glich meine Daten mit jenen ab, die ich schon zuvor angegeben hatte – und wünschte mir viel Spaß.

Foto: thomas rottenberg

Blöderweise war dann, als ich vom Schwimmen kam, alles anders, mein Wechselzeug weggeräumt und ich fast aus dem Rennen: Irgendwer in der Organisation hatte irgendwen anderen nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend informiert – und schwuppdiwupp schwebte ein DSQ (Disqualifikation) über mir. Weil ich mich ja gemeldet hatte, musste man mich nicht einmal auf der Strecke suchen …

Den Stewards in der Zone tat es auch leid, aber Regeln sind Regeln, und sie hatten ihre Anordnungen – auch wenn die keiner verstand. Es dauerte endlose acht Minuten, bis ich weiterfahren konnte. Ohne Kamera. Blöd gelaufen, aber kein Grund, den Tag oder das Rennen zu verfluchen. Ganz im Gegenteil.

Foto: thomas rottenberg

Auf der Radstrecke machte ich, wenn man so will, meinen einzigen echten Fehler: Ich sah, dass ich die 90 k eventuell knapp unter drei Stunden schaffen könnte. Also gab ich auf den letzten Kilometern Stoff: Wenn man noch einen Halbmarathon vor sich hat, sollte man nicht alle Körner am Rad verbrennen. Schon gar nicht am Schluss. Das wusste ich, nahm es in Kauf – und gab doch nicht 100 Prozent.

Halber Einsatz heißt halbes Ergebnis: 3:00:01 sagte meine Garmin. 3:00:17 die offizielle, korrekte Zeit. Egal: Ich weiß, wo meine Defizite sind. Ich sitze auf dem Zeitfahrrad so, als wäre es ein Hollandrad.

Ich bin bergab ein Schisser. Bei meiner Kurvenlage könnte ich genauso gut mit Stützrädern fahren. Aber Megaspaß macht es trotzdem.

Foto: Stefan Distlberger

Jetzt also laufen. 21 Kilometer, ein Halbmarathon. "Renn, Rotte, das ist deine stärkste Disziplin", brüllte mir Rene zu, als ich aus der Wechselzone kam. Rene kenne ich von den langen Sonntagsläufen im Spätwinter. Mit seinem Kumpel Martin war er gekommen, um anzufeuern. Nicht mich, sondern alle, die hier antraten. Und zwar vom ersten Schwimmstart an.

Wieso man das tut, verstehen nur "infizierte" Menschen: "Ironmates" oder "Ironman-Supportcrew" steht auf ihren T-Shirts.

Aber auch entlang der Strecke war die Stimmung, wie man es sich wünscht – und in Österreich kaum bekommt: Noch im hintersten kleinsten Dorf standen Menschen und feuerten an. Das hilft, ermutigt, trägt, beflügelt, macht die Qual zur Party: Auch wenn das Spalier natürlich nicht so dicht wie in Berlin, New York oder Boston war, halten Spirit und Emotionen dem Vergleich stand.

Foto: Stefan Distlberger

Dennoch war die Rennerei heftig. Nicht wegen der Distanz, sondern wegen der Hitze. Man rennt zwei Runden. Die Traisen entlang, übers Regierungsviertel ins Stadtzentrum und zurück.

Als ich auf die Laufstrecke kam, war es 12 Uhr. Die Sonne prügelte mit allem, was sie an diesem Tag hatte, auf uns herunter: Ich habe bisher bei keinem Lauf einen der nassen Schwämme genommen, die an Labungsstellen oft zum Unter-die-Kappe-oder-das-Shirt-Stecken gereicht werden. Hier nahm ich vier, pro Labe, alle zweieinhalb Kilometer.

Von der anvisierten Sub-5er-Pace verabschiedete ich mich bald: Etliche, auch gut vorbereitete Läuferinnen und Läufer gingen schon in der ersten Runde. Für Schatten liefen fast alle ein paar Meter mehr – oder verzichteten aufs Überholen. Niemand lief gegen irgendwen anderen: Wir litten gemeinsam – und würden gemeinsam durchkommen.

Foto: rené hauer

Gut einen Kilometer vor dem Ziel war dann das Wummern und Tosen von Platzsprecher und Tribüne zu hören: Ein letztes Mal über die kleine Brücke, über die wir in der Früh (war das wirklich heute?) zum Schwimmen gewankt waren.

Ein letztes Mal ums Stadion. An den Tribünen vorbei Richtung Wechselzone (kamen da immer noch Radfahrer? Arme Schweine!) Ein letzter U-Turn. Ein High-Five-Abklatschen vom Grundwehrdiener, der die Gabelung "zweite Runde – Finish" bewachte. Cheerleader. Ziellinie. Fertig.

Video vom Zieleinlauf

Foto: helena rastl

Wer je einen Event absolvierte, bei dem er oder sie über die Grenzen der eigenen Komfortzone ging, weiß, was man jetzt denkt und fühlt: "Nie wieder", "Was soll der Scheiß?" oder "Mein nächstes Hobby wird Sudoku." Gleichzeitig kommt die Freude, der Stolz. Die Plattitüde stimmt: "Der Schmerz geht, der Stolz bleibt." Egal wie lange es dauerte: Die Zeit ist übermorgen egal.

Doch da ist noch etwas: St. Pölten ist "nur der halbe Wahnsinn". Und für viele, sehr viele, die Generalprobe. Für die volle Runde: "In fünf Wochen das Ganze mal zwei? Wie soll das gehen?"

Foto: Stefan Distlberger

Ich war zwar erledigt, aber doch stolz und zufrieden. Einen Wermutstropfen hatte die Sache dennoch: Eva war nicht mitgekommen. Nicht weil sie nicht gewollt hätte, sondern weil sie beim Frauenlauf antrat: Ihr Ziel war der erste Zehner unter einer Stunde – in einem dichten, gedrängten und aufgeregten Feld (das ist bei Männern genauso, sie geben es nur nicht zu).

Auch weil man das ja auch üben muss, um bei größeren und längeren Läufen nicht von der Massenhysterie angesteckt zu werden – und alle "klassischen" Fehler macht, die zu vermeiden in der Theorie nie ein Problem ist.

Foto: Eva Lillan

Dass das beim Frauenlauf super geht, weiß ich. Letztes Jahr durfte ich mitrennen, als einziger Mann. Nicht aus Jux und Tollerei, sondern kurzfristig als Begleitläufer der blinden Skifahrerin Veronika Aigner. Auch heuer hatte Vronis Mutter gefragt, ob ich ihre Tochter guiden wolle. Das hätte sicher Spaß gemacht – und Eva wäre genau unser Tempo gegangen. Dennoch: Der Frauenlauf ist aus guten Gründen eine "Women only"-Sache. Auch wenn man als Begleitläufer als Neutrum gesehen wird, gibt es 1.000 Frauen, die den Job mindestens so gut können. Wer rechtzeitig sucht, findet. Heuer etwa Sabine Löffelmann.

Foto: sabine löffelmann

Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht da war, zumindest am Streckenrand. Eben weil ich weiß, wie wichtig das Wissen und das Gefühl sind, dass man zwar jeden Schritt selber machen muss, man aber eben doch nicht allein ist. Sogar dann, wenn der oder die, die einen anfeuern, in der Menge nicht auszumachen sind.

Das macht die Strecke nicht kürzer, den Pulk nicht weniger dicht und die Sonne nicht weniger stechend – aber eben doch einen Unterschied.

Foto: Eva Lillan

Währenddessen, aber auch danach: Es tut gut, wenn da jemand ist, egal ob die Läuferin (oder der Läufer) das gesteckte Ziel erreicht oder ob die Übung diesmal nicht gelingt, der lobt und feiert oder tröstet und wieder aufrichtet. Eva schaffte es. Locker sogar: 53 Minuten sind nicht nix – schon gar nicht, wenn es so heiß ist. "Am Wörthersee hast du bewiesen, dass du lange laufen kannst. Jetzt, dass du schnell bist" fasste Harald Fritz die letzten Wochen zusammen: Er weiß, wie es weitergeht.

Foto: Eva Lillan

Noch einmal zurück nach St. Pölten.

Dort ist offiziell um 16.30 Uhr Zielschluss. Gegen 16.27 kamen noch zwei Männer. Ich dachte, das sei es jetzt – und ging mein Rad holen.

Aber draußen, auf der Strecke, war noch eine Dame.

Regeln sind Regeln – aber dort, wo es zählt, darf und muss man sie beugen. Etwa dann, wenn da jemand seit mindestens achteinhalb Stunden (die letzte Startwelle war um 8 Uhr morgens) hart kämpft. Tut, was er oder sie sich selbst nie zugetraut hätte. Einen Traum lebt, der vom Umfeld mit "Das schaffst du nie" abgetan wurde.

Andrea kam kurz nach 16.35 über die Traisen. Kurz nach Cut-off: keine Wertung, keine Medaille, kein Applaus.

Bei den meisten Läufen und Events wäre das nur noch Pflichterfüllung gewesen. Ein trauriges Finish – mit der Punze "Niederlage".

Hier nicht: Das Publikum kam von den Tribünen und den Gastrozelten auf die Strecke. Nicht nur die Cheerleader, sondern auch Anja Beranek, die drittplatzierte Frau, und dutzende Teilnehmerinnen und Teilnehmer liefen die letzten hundert Meter mit Andrea. Alle jubelten. Vielleicht lauter als beim offiziellen Sieger. Weil … ehschonwissen.

Ich war leider nur Ohrenzeuge. Trotzdem: Das war der schönste Augenblick eines an sich schon wunderschönen Tages.

Weil es genau darum geht.

(Thomas Rottenberg, 30.5.2018)


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Foto: Irene Weidmann