Immer mehr Ärzte klagen über akute Arbeitsüberlastung und taumeln zwischen Helfer-Anspruch und Spitals-Wirklichkeit.

Wien – Hin und wieder treffe sie die früheren Kollegen. Dann hört Andrea Z. Sätze wie diesen: "Gut, dass du rechtzeitig gegangen bist." Auch sie hat es nie bereut, vor wenigen Jahren, damals war sie Ende dreißig, ihren Job als Chirurgin beendet zu haben. Schichten, die Freitagfrüh begannen und Montagmittag endeten, ohne Schlafpause, bis zu zweimal pro Woche: "Ich habe es mental und körperlich nicht mehr geschafft." Heute ist Z. Landärztin in Niederösterreich. Sie arbeitet, wie sie als Ärztin immer arbeiten wollte. Sie schläft normal.

Markus G. hat durchgehalten. Er ist Intensivmediziner in einem großen Wiener Krankenhaus, und er erinnert sich gut an jenen Morgen, als er ins Auto stieg, den Zündschlüssel drehte, losfuhr und am Ende vor einem Haus stand, das er kannte, in dem er aber nicht wohnte. Nach 48 Stunden Dienst ohne Schlaf hatte er vergessen, dass er schon seit über einem Jahr woanders lebte. Im selben benebelten Zustand hatte er eine Stunde davor noch "Entscheidungen getroffen, die durchaus heikel waren". Diese Zustände sind passé. Seit der Arbeitszeitreform, die Nachtdienste von Spitalsärzten auf eine Dauer von 24 Stunden beschränkt hat, herrschen andere Bedingungen.

Bessere Bedingungen? Nein, sagen viele. Zwar loben alle Spitalsärzte, mit denen der STANDARD gesprochen hat, die menschlicheren Arbeitszeiten. Doch was sich während dieser kürzeren Schichten abspielt, treibt manche zur Verzweiflung. Als Mitte März ein Notfallmediziner aus dem Wiener AKH unter dem Pseudonym Christian K. in einem STANDARD-Gastkommentar über den massiven Zeitdruck in der Ambulanz klagte und darüber, dass dieser Druck Behandlungsfehler und Fehldiagnosen zur Folge habe, gab es auch viele Postings von Ärzten. Der Tenor: Kennen wir, unterschreiben wir. Wie am Fließband würden Patienten durch die Notaufnahme geschleust: Wer reinkommt, soll so schnell wie möglich wieder raus.

Ärzte suchen Betten

Woher kommt dieser Druck? Einerseits zwingen knappe Budgets zur Kostendämpfung. Andererseits werden die knappen Mittel oft auch schlecht eingesetzt, meint Markus G.: Wenn es darum gehe, Notfälle auf die Spitäler zu verteilen, herrsche in Wien "komplettes Chaos". Im Wiener Krankenanstaltenverband verweist man auf die Wiener Rettung. Dort wiederum heißt es, es gebe sehr wohl ein computergestütztes System. Für jedes Spital gebe es ein Bettenkontingent, und je nachdem, wo noch Betten frei seien, fahre das Rettungsauto Ambulanz A oder B an. Wobei nicht jedes Spital für alle Patienten zuständig ist. Manche nehmen eher Kinder, andere eher Arbeitsunfälle.

Was aber, wenn alle Kontingente voll sind? "Dann werden sie wieder aufgebucht", sagt der Sprecher der Rettungsleitstelle. "Uns geht das Kontingent regelmäßig schon am Nachmittag aus", erzählt Intensivmediziner G., "ab 13 Uhr fährt die Rettung völlig erratisch Krankenhäuser an." Dann komme es vor, dass man zwei neue Intensivfälle gleichzeitig versorgen und mehrere Rettungsautos gleichzeitig abfertigen müsse. Bis zu siebzig Prozent der Arztzeit auf der Notaufnahme werden durch Bettensuche blockiert, schätzt G. – also durch mühsames Durchtelefonieren diverser Stationen im eigenen Haus und in anderen Spitälern.

Das alles wäre noch schaffbar, gäbe es nicht auch jene Patienten, die auf eigene Faust in die Ambulanz kommen. Dass das Problem gelöst wäre, wenn diese "Selbstkommer" in den niedergelassenen Bereich umgeleitet werden, glaubt G. nicht: Das größte Problem seien nämlich jene Patienten, die quasi "zwischen Pflegeheim und Ambulanz hin- und herpendeln". Wären die Pflegeheime medizinisch besser ausgestattet, könnten die Patienten dort versorgt werden – und zwar auf qualitativ bessere Weise als im überlaufenen Großspital.

Keine Wahl außer Spital

Viele "Selbstkommer" hätten zudem gar keine andere Wahl, sagt Ärztin Luisa M. – etwa, weil am Wochenende keine Ordination offen hat und das Problem akut behandelt werden muss. Oder weil es für bestimmte Fälle, zum Beispiel Diabetespatienten, im niedergelassenen Bereich gar kein Angebot gibt. In Wien seien nur bestimmte Bereiche, etwa die Diabetologie oder Kardiologie, ambulant unterversorgt.

Weitaus drastischer ist die Situation an der Peripherie der Stadt. Dass die Kassen ihr Angebot angesichts des auch kürzlich von der Koalition verkündeten hohen Spardrucks weiter ausbauen werden, wird allgemein bezweifelt. Im internationalen Vergleich sticht Österreich durch den hohen Anteil an stationärer Versorgung heraus. Geld, das ambulant besser eingesetzt wäre, versickert so im teuren Spitalssektor. Der hohe Arbeitsdruck an den Spitälern ist aber nicht nur eine Folge eines ineffizienten Umgangs mit knappen Ressourcen. In keinem Bundesland sind die Spitäler so stark belastet wie in Wien. Menschen aus Niederösterreich und dem Burgenland fahren zur Behandlung in die Hauptstadt.

Vor allem aber wächst die Stadt. Immer mehr Menschen lassen sich hier nieder, und die, die hier wohnen, werden immer älter. Es ist eine gesundheitsökonomische Binsenweisheit, dass Spitalsressourcen von niemandem so stark genutzt werden wie von Menschen in ihren letzten Lebensjahren.Die vorhandenen Geldmittel ziehen mit dieser Entwicklung nicht mit, wie eine Erhebung der Ökonomin Maria M. Hofmarcher zeigt. Während österreichweit das Spitalsbudget zwischen 2011 und 2015 pro Kopf und Jahr um 2,1 Prozent wuchs, nahm es in Wien nur um 1,5 Prozent zu. Zum Vergleich: Allein zwischen 2015 und 2016 ist Wien um 2,4 Prozent gewachsen. Anmerkung: Die Namen der zitierten Ärzte wurden geändert. (Maria Sterkl, 26.5.2018)