Las Vegas – "Es wäre die großartigste Story der NHL-Geschichte", sagt Barry Melrose. Der Mann wird als TV-Experte zwar dafür bezahlt, zu übertreiben, aber, nun ja, er hat recht. Dieses "Es" ist die Möglichkeit, dass die Vegas Golden Knights den Stanley Cup gewinnen. Ein Team, das es vor einem Jahr noch nicht gab.

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Die Knights könnten Geschichte schreiben.
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Die Golden Knights sind das jüngste Expansion-Team der National Hockey League, für schlanke 500 Millionen Dollar durfte Besitzer Bill Foley die Liga erweitern. Das Protokoll sah und sieht dafür einen sogenannten Expansion-Draft vor, in dem das neue Franchise seinen Kader aus Spielern der Konkurrenz zusammenstellt. Jedes Team kann einige Spieler "schützen", aus den anderen darf das neue Franchise aber je einen Wunschakteur wählen. Die Regeln waren für die Golden Knights großzügiger als für ihre Expansion-Vorgänger, diesmal durften "nur" neun bis elf Spieler pro Team geschützt werden. Stars und Stützen aus der zweiten Reihe waren damit aber immer noch tabu. Die Mannschaft war ein Sammelsurium von Drittlinienspielern.

Praktisch niemand räumte den Golden Knights vor Saisonstart auch nur den Funken einer Chance auf den Titel ein. Besitzer Foley sagte: "Wir haben keine hohen Erwartungen. Wenn wir verlieren, wollen wir um ein oder zwei Tore verlieren, nicht um fünf oder sechs." Experten von Quebec bis Kalifornien sahen die Golden Knights am untersten Ende der Tabelle, manche sprachen vom "schlechtesten Kader der Liga".

Remember Leicester City

Jetzt steht genau dieser Kader im Finale gegen die Washington Capitals. Es ist ein Märchen – solche sind im modernen Sport selten geworden. Zu kalkuliert, zu professionell ist das Geschäft, Erfolgsgeschichten wie Leicester Citys Fußballmeistertitel 2016 sind singulär. Für die Sensation, die schon der Finaleinzug ist, musste viel zusammenkommen.

Die Highlights des entscheidenden Spiel 5.

Der Grundstein war gezwungenermaßen der Expansion-Draft, in dem General Manager George McPhee nicht nur das Händchen für die richtigen Spieler hatte, sondern den Kader mit diversen Seitendeals weiter verstärkte. Quasi nach dem Motto: Ich nehme euch einen Spieler ab, den ihr loswerden wollt, dafür bekomme ich auch meinen Wunschspieler.

Der Über-Goalie

Als ersten Spieler wählte McPhee den Mann, der das Gesicht des neuen Franchise werden sollte: Marc-André Fleury. Der Goalie gewann mit den Pittsburgh Penguins 2009, 2016 und 2017 den Stanley Cup, war bei den Penguins im Finale der vergangenen Saison aber auch verletzungsbedingt nur Ersatz. So betrachtete Pittsburgh die jahrzehntelange Stütze als verzichtbar, in Vegas spielte er nun die Saison seines Lebens.

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In den Playoffs hat Fleury unglaubliche 94,7 Prozent der Schüsse auf sein Tor pariert.
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Es sind Glücksfälle wie diese, die den unglaublichen Lauf der Golden Knights ermöglichten. Auch die Florida Panthers trugen ihren Teil bei, indem sie ihren Head Coach Gerard Gallant ein halbes Jahr nach der besten Saison der Franchisegeschichte vor die Tür setzten. Nun ordiniert er in Las Vegas und schmiedete das Team, das deutlich mehr als die Summe seiner Teile ist.

Emotionale Momente

"Nichts hält mehr zusammen als ein Team im ersten Jahr. Es gibt keine Vorurteile, keine Hierarchie. Keiner weiß, wo er wohnen soll ... Das schweißt zusammen", sagt Capitals-Coach Barry Trotz, der selbiges 1998 mit dem Expansion-Team der Nashville Predators erlebte. Und: "Traurigerweise gab es die Tragödie, die sie noch enger zusammenrücken ließ." Neun Tage vor dem ersten Heimspiel der Golden Knights schoss ein Attentäter aus einem Hotelzimmer auf Besucher eines Country-Festivals, tötete 58 Besucher und verletzte 851 weitere. Die Halle der Golden Knights liegt keine zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Aus der geplanten Eröffnungsparty wurde eine Hommage an die Getöteten und Ersthelfer. "Es gab extrem emotionale Momente, die eine Liebe zwischen der Gemeinde und unserem Team erzeugt haben", sagt McPhee.

Vor dem ersten Heimspiel.

Der Anschlag ist eine der Schichten einer Jetzt-erst-recht-Mentalität, die die Golden Knights auszeichnet. "Wir nennen uns aus einem guten Grund die Golden Misfits", sagt Ryan Reaves. Die Misfits, die Außenseiter, ein Haufen Spieler, auf die ihre alten Teams keinen Wert mehr legten. Reaves: "Wir haben es schon die ganze Saison lang allen gezeigt."

Millionenverluste

Vor allem haben sie es einer Berufsgruppe gezeigt, die Las Vegas ausmacht: den Buchmachern. Die Wüstenmetropole ist die Sportwettenhauptstadt der USA, und es wird bevorzugt auf das lokale Team gewettet. Rund fünf bis sechs Millionen Dollar sollen Knights-Siege die Wettanbieter bisher schon gekostet haben. Für die Vollendung der Sensation wäre etwa noch einmal so viel fällig, für jeden vor Saisonstart auf das vermeintlich Unmögliche gesetzten Dollar müssten die "Bookies" bis zu 500 Dollar auszahlen. Es gibt also sogar in Las Vegas ein paar Menschen, die die "großartigste Story der NHL-Geschichte" lieber nicht erleben würden. (Martin Schauhuber, 28.5.2018)