Ärzte ohne Grenzen zog am Mittwoch Bilanz über das Jahr 2017 – und rief zu mehr Hilfe für Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch auf. Im Bild: Eine Mitarbeiterin mit einem Säugling und dessen Mutter in einem Flüchtlingscamp. Die muslimische Minderheit flieht vor Gewalt in Myanmar ins Nachbarland.

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Wien – 2017 ist ein Rekordjahr für Ärzte ohne Grenzen gewesen: 156 Einsatzkräfte gelangten über das Wiener Büro der Hilfsorganisation zu 226 Hilfeinsätzen in 45 Ländern – dabei leisteten sie Nothilfe im Umfang von 771 Monaten. "Das ist ein neuer Rekord, und wir freuen uns über das außerordentliche Engagement", sagt Geschäftsführer Mario Thaler. Allerdings sei es alles andere als ein schöner Rekord, lasse sich daran doch ablesen, wie groß der Hilfsbedarf sei.

Rohingya in Bangladesch: Mehr Hilfe gefordert

Bei der Präsentation des Berichts für das Jahr 2017 machten Vertreter der Organisation vor allem auf die Situation der Rohingya in Bangladesch aufmerksam: In den teilweise sehr improvisierten Flüchtlingscamps drohe eine humanitäre Katastrophe, wenn nicht rasch lebensnotwendige Vorbereitungen für den nahenden Monsun getroffen würden.

Internationale Organisationen gehen von bis zu einer Million Flüchtlinge aus, 700.000 seien im vergangenen Jahr vor extremer Gewalt und Übergriffen im Bundesstaat Rakhine aus Myanmar nach Bangladesch geflohen, sagt die Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen in Österreich, Margaretha Maleh. "Wenn der große Regen kommt, muss davon ausgegangen werden, dass es in den ungünstig gelegenen Flüchtlingslagern nicht nur zu Überschwemmungen und Murenabgängen kommt, sondern auch zu Krankheitsausbrüchen." Es drohe eine humanitäre Krise.

Schlüsseltag für die Krise sei 2017 der 25. August gewesen, sagt Maleh. "Damals gab es besonders brutale Angriffe auf Rohingya-Dörfer." Laut Amnesty International handelte es sich dabei um eine brutale "Räumungsoperation" der Armee von Myanmar. Zuvor hatten laut Amnesty die militante Rebellengruppe Arakan Rohingya Salvation Army ein Massaker an hinduistischen Zivilisten verübt.

Bericht einer Kinderärztin

Die Situation in Bangladesch miterlebt hat Mona Tamannai, eine Kinderärztin aus Berlin. "Das war jetzt mein bereits sechster Einsatz für Ärzte ohne Grenzen – und sicherlich der schwerste." In den Camps hätten teils "katastrophale Bedingungen" geherrscht. "Wir haben zehn bis 14 Stunden pro Tag gearbeitet und dann trotzdem noch das Gefühl gehabt, man könnte mehr tun." Die häufigsten Krankheiten seien Auswirkungen der Lebensbedingungen in den Unterkünften: Durchfallerkrankungen und Atemwegserkrankungen, etwa Diphtherie. "Das hatte ich zuvor noch gar nie behandelt. Wir haben beim Ausbruch der Krankheit aber gut und schnell reagiert", sagt Tammanai.

Besonders in Erinnerung blieb der Kinderärztin ein vier Jahre alter Bub mit schweren Verletzungen der Speiseröhre. "Das Militär hat ihn gezwungen, Batteriesäure zu trinken. Wir mussten ihm eine Magensonde einsetzen." So etwas nehme einen als Ärztin extrem mit. Tammanai hatte bereits im Studium den Wunsch, im Ausland und in Krisengebieten zu helfen. Wenn sie zurück in Deutschland ist, macht sie meistens nur eine kurze Vertretung in einer Praxis, bevor es wieder zu einem Einsatz geht.

23 Millionen Euro an Spenden

Obwohl Ärzte ohne Grenzen bereits seit den 80er-Jahren in Bangladesch im Einsatz ist und eine gute Infrastruktur besteht, musste das Personal im vergangenen Jahr verzehnfacht werden. Außerdem wurden die Betten in den Kliniken aufgestockt – in der Kinderklinik, in der Tammainai arbeitete, von 50 auf 110 Betten.

Die Hilfe für geflohene Rohingya wurde 2017 mit 150.000 Euro aus Österreich finanziert. Insgesamt hat die österreichische Sektion 16,7 Millionen Euro für die medizinische und humanitäre Nothilfe in Krisengebieten ausgegeben. Weitere 1,8 Millionen flossen in die Vorbereitung und Unterstützung der Hilfseinsätze. Insgesamt spendeten Privatpersonen und Unternehmen über 23 Millionen Euro für die Nothilfe von Ärzte ohne Grenzen.

Sterben vor den Toren Europas

Wie schon im Jahr davor war auch die Lage in Libyen wieder Thema: "Unsere Teams werden Zeuge davon, wie die Menschen in Internierungslagern wie Tiere gehalten werden", sagt Geschäftsführer Thaler. Als das medial aufgedeckt wurde, habe es einen Aufschrei gegeben. "Aus den Versprechen europäischer Entscheidungsträger wurde aber nichts."

In dem Land, das viele auf der Flucht nach Europa passieren, arbeitet Ärzte ohne Grenzen auch mit einer lokalen NGO zusammen, die sich um die angemessene Beerdigung getöteter Flüchtlinge kümmert. "Wir liefern der Organisation Leichensäcke, die sie verwenden können. 730 Personen wurden 2018 bereits auf diese Weise beerdigt." Libyen stehe jedenfalls exemplarisch dafür, warum Ärzte ohne Grenzen seine Rolle nicht nur in medizinischer Soforthilfe, sondern auch im "Witnessing" – dem Aufmerksammachen auf Krisen und Konflikte – sieht.

Sorge wegen Ebola im Kongo

Auch der aktuelle Ebola-Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo bereitet der Organisation Sorge. Bis Dienstag wurden 51 Verdachtsfälle gemeldet, bei 28 Patienten und Patientinnen wurde das gefährliche Virus nachgewiesen – darunter vier in der Millionenstadt Mbandaka. "Dadurch hat sich das Szenario geändert, bisher war das Virus in der Demokratischen Republik Kongo nur in abgelegenen Gebieten aufgetreten", sagt Maleh. "Es hat jetzt oberste Priorität, die Erkrankten zu behandeln und die Kontakte aller Verdachtsfälle zurückzuverfolgen."

Wichtig sei nun, die sechs Säulen jedes Ebola-Einsatzes rasch umzusetzen: die Behandlung und Isolierung der Erkrankten, die aktive Suche nach Erkrankten, die Rückverfolgung von Kontakten, die Aufklärung der Bevölkerung, die Unterstützung lokaler Gesundheitseinrichtungen und die sichere Beerdigung der Toten. Hinzu komme der Einsatz eines Ebola-Impfstoffs, diesbezüglich arbeite man eng mit den Gesundheitsbehörden und der Weltgesundheitsorganisation zusammen. (lhag, 23.5.2018)