Es ist Ausverkauf in der Boutique Gelatin. Zwischen leeren Kleiderbügeln hängt nur noch wenig Gewand, ein gesittetes Gerangel herrscht um die heißen Fetzen, Groß und Klein, Alt und Jung schlüpfen in diesem Gewusel in die Textilien, drängen sich kichernd vor den Spiegeln. Ein mit Verzückungsrufen, posierenden Leibern und Lachen prallgefülltes Boudoir.

Foto: Jason Schmidt

Aber es ist keine Mode, keine Ware, die hier im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam feilgeboten wird; es sind Kostüme oder vielmehr weiche Skulpturen, die die kindliche Laune an der Verkleidung geweckt haben – genauer gesagt die Lust am Überstülpen einer nackten Haut.

In dieser opulenten Ouvertüre zur Ausstellung Vorm – Fellows – Attitude wiegt eine gepflegte Dame mit rotem Lippenstift stolz ihre neuen blitzweißen Hängebrüste, ihre Begleitung greift sich beherzt ans schlichte beigefarbene Frottee-Gemächt. Ein älterer Herr stolziert wie ein Gockel mit seinem bunten Pappmaché-Penis durch die musealen Hallen, andere haben sich den Busen wie einen Schal um den Hals geworfen, einträchtig schlendern die Träger von Kuschel-Klöten und Häkel-Hoden. Eine Promenade der Nackedeis, die an das Märchen Des Kaisers neue Kleider erinnert – aber verkehrt herum.

Keine Festlegungen – weder in geschlechtlicher, noch in ethnischer Hinsicht! Das war bei den Nacktkostümen, die gemeinsam mit der Modedesignerin und Künstlerin Anna Schwarz entwickelt wurden, wichtig. Denn in den am kolonialen Erbe kiefelnden Niederlanden schwelt die Rassismusdebatte.

Wollenes Achselhaar

Und so gibt es im Garten Eden des österreichischen Künstlerkollektivs Gelatin praktisch alles: mit buntem Satin gesäumte Vaginas oder leise klingelnde Muschis mit allerlei geklöppelter Handarbeit und Pelzbesatz, beringte Brustwarzen aus Lederflicken oder Jerseystoff, wollenes Achselhaar und Fantasie-Identitäten von schneeweiß bis melanzanifarben. Auch der Hasenstoff, der für Gelatins riesigen, 2005 auf einem Hügel im Piemont platzierten rosa Schmusehasen verwendet wurde, fand neue Erfüllung.

Gelatin, ein Künstlerkollektiv mit Haltung und Formen, die ihre Funktion nicht verhehlen: "Vorm – Fellows – Attitude".
Foto: Jason Schmidt

Die Rolle ist leicht gegen eine neue getauscht, aber kann man sich das Nacktsein – Unschuld und Unbekümmertsein – überstreifen wie ein Stück Kleidung? Betritt man das eigentliche Schauspiel, zweifelt man nicht mehr. Denn wie immer haben Gelatin eine fantastische, aber von der Realität inspirierte Welt von grotesker Abgründigkeit ins Museum gehievt: Oft erinnert ihr Balanceakt zwischen Ekel und Lust, Moral und Amoral an die spätmittelalterlichen Bilduniversen des Hieronymus Bosch, dessen Höllentafel (um 1515) in Rotterdam nur einige Säle weiter hängt.

Dieses Mal haben sich Gelatin aber gegen einen Horror Vacui und für eine monumentale "Setzung" entschieden: Vier gigantische Kothaufen haben die vier (Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban) gemeinsam mit ihren Mitstreitern ins Museum gepflanzt. Abgeseilt. Wenn man so will, ist die sich wie eine Anaconda in den Raum schlängelnde Kackwurst eine Konsequenz aus den Beschimpfungen, sie würden in ihrer Kunst eh nichts anderes tun, als in die Ecke zu scheißen. Den Kritikern ist ihre "Shit Show" auch gewidmet: "Sie werden zufrieden sein." Während beim phrygischen König Midas alles zu Gold wurde, "wird bei uns alles, was wir angreifen zu Scheiße. Wir sind Anti-Midas, das sagen sogar unsere Galeristen", erzählt Wolfgang Ganter.

Formfindung mit dem Anus

Freilich, die skulpturale Geste ist provokativ (in Österreich fänden sich sicherlich einige bemüßigt, die "Fäkalkunst"-Begriffe wieder auszugraben), aber nach Gelatins Kakabet, ihrem pinkelnden Springbrunnen Arc de Triomphe, allerlei Variationen zum Thema Loch, Grabungen und Formfindungsexperimenten mittels Penis und Anus nicht weiter verwunderlich.

In Rotterdam ist man mit derlei Themen – mit sexuell aufgeladener Körperlichkeit und dem Rohen und Dreckigen – womöglich nicht so zimperlich: An der Gracht, die zum Museum führt, steht ein Zwerg von Paul McCarthy mit einem Butt-Plug und ein Stück weiter, direkt am Wasser, liegt Franz Wests Plastik Qwertz, zuckerlfarbene Würste, die Hunde offensichtlich dazu animieren, ein Geschenk dazulassen.

Franz West "Qwertz" (2001) in Rotterdam
Foto: Anne Katrin Feßler

Trotz der Kloschüsselinhalte geht es Gelatin, den Meistern des weichen Materials, um Fragen der Bildhauerei, um die Skulptur im Raum. Der große stützenlose Saal forderte sie regelrecht zu einer Monumentalskulptur heraus. Uns fordern nun vielmehr riesige, verschiedenfarbige, mal mehr, mal weniger glänzende Häufchen menschlichen Mistes, quasi zur Rückkehr in die anale Phase auf. Denn wir können zwar täglich Ohrenzeuge von angeregten Gesprächen über die Konsistenz der Hundstrümmerln von Nachbars Flocki werden, aber die eigenen Ausscheidungen werden am liebsten in einem blauen Schwall aus Sanitärfrisch versteckt.

Gelatin werden nun also zu Alchemisten der Dunkelheit und holen unser Gacki aus der Versenkung, musealisieren es, überhöhen es, indem sie es auf einen Sockel heben, selbst wenn es nur ein bourgeoiser Orientteppich ist. Das was sprichwörtlich darunter gekehrt ist, liegt jetzt obenauf, quillt sogar darüberhinaus. Das kann man auch gerne metaphorisch lesen: Mensch, schau Dir die Scheiße an, die du produzierst!

2011 in Krems konnte man als Pferdchen durch den bunten Kosmos der Ausstellung Lucas Bosch Gelatin galoppieren, ein Angebot, das wenig genutzt wurde. In Rotterdam gelingt das Experiment. Die illustren "Nackten" flanieren amüsiert, schießen Selfies, die Kinder tummeln sich unter den Exkrementen.

Foto: Aas Hoogendoorn, Museum Boijmans van Beuningen

Ach ja, Erasmus von Rotterdam meinte zu wissen, dass jedermanns Scheiße für ihn selbst gut riecht, aber hier stinkt, dem Material Lehm sei Dank, gar nichts. Und noch was: Die Urform allen menschlichen Gestaltens ist übrigens universal, an ihr lässt sich keine Rasse, kein Geschlecht ablesen. (Anne Katrin Feßler aus Rotterdam, 22.5.2018)