"Ich bin der König", so beginnt Martin Prinz sein neues Buch.

Foto: Lukas Beck/Suhrkamp

Der König von Lilienfeld sah stolz über den Marmorboden der Pausenhalle. Er war acht Jahre alt und musste in die Klasse zurück." Das wäre vielleicht ein schöner Romanbeginn (auch wenn es wohl "blickte stolz über den Marmorboden" heißen sollte). Aber leider beginnt das Buch mit dem Satz "Ich bin der König". Und man muss nicht lange lesen, um zu begreifen: Dieses Ich ist keine erfundene Figur, sondern der Autor Martin Prinz selbst. Hier wird das Etikett "Roman" missbraucht, denn in dieser undeklarierten Autobiografie scheint es keine einzige fiktive Person oder Situation zu geben.

Was Martin Prinz zu erzählen hat, ist freilich trotzdem – oder gerade deswegen – sehr interessant. Er leuchtet seine Kindheit und Familiengeschichte aus, und da fließt viel Regionalgeschichte der Orte Lilienfeld und Traisen ein. Und er verfällt dabei weder in ein billiges Provinzbashing noch in die ebenso wohlfeile Idylle.

Wunderbare Porträts

Aus einzelnen Bildern (Fotos spielen eine wichtige Rolle) und Szenen gelingen Prinz wunderbare Porträts. Unvergesslich ist das der Traisener Großmutter am Beginn des zweiten Kapitels. Sie schneiderte und nähte für Frauen. Sechseinhalb Buchseiten reichen, um den faszinierten Blick des Kindes auf die Arbeit des Schnittzeichnens und Zuschneidens und die Vereinsamung der Großmutter, als ihre Arbeit überflüssig geworden war, zu zeigen.

Lebensgeschichte, Arbeitsauffassung und der Niedergang des Handwerks angesichts der billig hergestellten Konfektionsware verschränken sich. "Sie war ein Relikt. Als Frau, die geglaubt hatte, außer ihrer Arbeit für sich nichts zu brauchen, war sie am Ende ihres Lebens in der falschen Zeit und im falschen Leben gelandet", heißt es über die Großmutter.

Eine Zentralfigur des Buches ist der Großvater, der jahrzehntelang Bürgermeister von Lilienfeld war und dabei den ekelhaften Postenschacher seiner ÖVP nicht mitmachte, dafür aber Projekte der Stadtentwicklung vorantrieb oder verhinderte. In seinem Porträt sind Lokalhistorie, individuelle Lebensgeschichte und Veränderung von Mentalitäten besonders geglückt verschränkt. Und das Schlusskapitel, das ganz dem Räumen des großelterlichen Hauses gewidmet ist, lässt manches noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Vor allem hinterlässt es ein brennendes Rätsel: die lange und seit dem Zweiten Weltkrieg unglückliche Ehe der Großeltern, an der die Großmutter jede Freude verloren hatte.

Erzähltechnisch wenig ambitioniert

Leider ist das wohl das einzige Geheimnis, das dieses Buch offenlässt. Sonst wird so gut wie alles schön der Reihe nach und mit einer psychologischen Einfühlung auserzählt. In Sätzen und Wörtern, bei denen kaum etwas schiefgeht (sieht man von dem Unwort "nichtsdestotrotz" ab), die einen aber selten aufhorchen lassen. Leider ist das Buch auch erzähltechnisch wenig ambitioniert. Einmal beginnt ein Text mit dem Satz "Ich hatte das Schreien von weitem gehört". Da ist man in eine rätselhafte Situation hineingeworfen und liest voll Spannung, bis man versteht. Doch das ist leider eine Ausnahme. Meist weiß man schon beim ersten Satz, worum es jetzt gehen wird.

Besondere Sätze findet Martin Prinz nur dann, wenn es um eigene Erlebnisse geht, etwa um das obsessive nächtliche Lesen; oder das Wahrnehmen des ersten Schnees. Aber leider gibt es immer wieder Pseudo-Tiefsinn wie diesen: "Sowenig sich all die Augenblicke je in Worte fassen lassen, so wenig sind sie verschwunden." Das Eingeständnis, etwas lasse sich nicht in Worte fassen, ist die Bankrotterklärung eines Schriftstellers. Literarische Texte sollen an das Nichtsagbare rühren – ohne dass der Autor darauf hinweisen muss.

Was den Wert des Buches ausmacht, steckt in dem Satz "Als der damalige Bub komme ich mir heute wie eine Sonde vor". Tatsächlich fördert diese Autobiografie Erstaunliches zutage: die Umstände, unter denen ein zaristischer Soldat zum Urgroßvater des Autors werden konnte, wie das Linzer Domkapitel Bauern um ihre Höfe brachte oder dass Bauern um ganze Höfe spielten und vieles andere, was für eine Geschichte Österreichs von unten von Bedeutung ist. Das Buch aber bleibt hinter der Dichte der autobiografischen Prosa Das Erste, was ich sah von Karl-Markus Gauß zurück. Und es hat in der Verbindung von Familien- und allgemeiner Geschichte nicht die Stringenz der Konstruktion von Arno Geigers Roman Es geht uns gut. Die unsichtbaren Seiten besticht durch seinen Stoff und einige lichte Momente, ist aber auch eine vergebene Chance. (Cornelius Hell, 24.5.2018)