Zwischen dem Sturz Saddam Husseins und der Parlamentswahl am Samstag liegen eineinhalb Jahrzehnte: 15 Jahre, in denen der Irak einen Bürgerkrieg und die Besetzung eines Drittels des Landes durch den "Islamischen Staat" (IS) und einen Krieg zu dessen Vertreibung überstanden hat. Der IS ist zumindest territorial besiegt, und die Hoffnung auf einen Neuanfang hat die Erwartungen an diese Wahl hochgetrieben: Zwar gab es nicht viele neue Gesichter unter den Kandidaten, aber fast alle gaben sich diesmal Mühe, Wähler und Wählerinnen quer über konfessionelle und ethnische Identitäten hinweg anzusprechen. Ist da nicht ein ganz neuer Irak im Entstehen?

Offenbar ist der Glaube daran unter den Irakern selbst nicht stark ausgeprägt. Die schwache Wahlbeteiligung von weniger als 45 Prozent ist nicht durch die Sicherheitslage zu erklären: Im April 2014, als inmitten des IS-Vormarsches und täglicher Anschläge gewählt wurde, gingen 60 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Das Vertrauen, dass Wahlen etwas verändern in dem Sinn, dass sie die Leistungen des Staates für den Bürger verbessern, ist weiter gesunken. Noch schlimmer: Die Wahlen seit 2005 beziehungsweise die Regierungsbildungen danach haben stets dazu beigetragen, die Polarisierung zu verschärfen. Das könnte auch diesmal der Fall sein.

Erste Tendenzen

Dabei schienen die ersten Tendenzen doch vorsichtig optimistisch zu stimmen. Die am Sonntag durchgesickerten Prognosen gingen in die Richtung, dass Regierungschef Haidar al-Abadi eine Chance auf eine zweite Amtszeit bekommen könnte. Man muss bei Gott kein Abadi-Anhänger sein: Aber die Sorge war, dass eine schwache Wahlbeteiligung jenen Gruppen zugutekommen könnte, deren Anhänger ideologisch am diszipliniertesten sind – den Iran-freundlichen schiitischen Milizen.

Und sie haben tatsächlich gut abgeschnitten, sind vielleicht sogar auf Platz zwei. Ihre Rolle bei der Befreiung des Irak vom IS wurde honoriert. In Teheran sollte man sich dieses Wahlergebnis dennoch genau ansehen: Im Irak sind und bleiben jene Schiiten, die sich am Iran orientieren wollen, eine Minderheit, das irakische nationalistische Lager ist viel größer. Für jene Sunniten, die diese Gruppen fürchten, ist das allerdings ein schwacher Trost.

Hinter Abadi lag in diesem ersten Szenario der einstmals wilde junge Schiitenführer Muqtada al-Sadr mit seiner ungewöhnlichen Allianz mit den Kommunisten – also den Säkularen schlechthin. Er gehörte mit Abadi zu den Kräften, die im Wahlkampf stark auf die Inklusion der Sunniten setzten und auf eine Distanzierung vom Iran. Sadr hat Premier Abadi in der Vergangenheit auch bei dessen – damals gescheitertem – Versuch unterstützt, eine Technokratenregierung einzusetzen. Er ist heute eine andere politische Figur als jener Sadr, der nach 2003 die schiitische "Mahdi-Armee" gründete, die Angst und Schrecken der Sunniten war.

Wenn Sadr nun Erster wird und Hadi al-Amiri, der Chef der Milizenkoalition "Fath", tatsächlich Zweiter, dann haben jene beiden schiitischen Gruppen gewonnen, die einander diametral entgegengesetzt sind. Die Regierungsbildung wird extrem schwierig werden – und dem Irak könnte eine neue Zerreißprobe bevorstehen. "Die Schiiten" gibt es im Irak nicht mehr, sie sind fraktionierter als alle anderen Gruppen.

Der Proporz

Der Usus ist seit 2006, einen Sunniten zum Parlamentspräsidenten und einen Kurden zum Staatspräsidenten zu machen, weil der Premier Schiit ist. Über den Präsidentenposten wird immer wieder diskutiert. Ihn den Kurden gerade jetzt wegzunehmen sähe jedoch wie eine Fortsetzung der Bestrafung nach ihrem unglücklichen Unabhängigkeitsreferendum im vergangenen Herbst aus.

Aber spätestens bei der Regierungsbildung wird sich zeigen, ob die irakische Politik zur Vernunft kommt und gerade angesichts dieser sich abzeichnenden neuen Polarisierung bereit ist, vom – anders als im Libanon nirgends festgeschriebenen – Proporzsystem Abschied zu nehmen, das dazu führt, dass Ministerien wie Pfründe an einzelne Gruppen vergeben werden. Die Iraker und Irakerinnen hätten sich den Aufbruch in eine Ära der Dienstleistungspolitik verdient. Aber viel Anlass zur Hoffnung gibt es nicht. (Gudrun Harrer, 13.5.2018)