Es gibt selbstverständlich Wählerinnen und Wähler, die die Liste Pilz nicht wegen des Listengründers gewählt haben, sondern weil sie Peter Kolba im Parlament haben wollten. 927 Wahlberechtigte haben dem Konsumentenschützer bei der Nationalratswahl ihre Stimme gegeben.

Aber damit, dass er plötzlich in der ersten Reihe stehen würde, haben sie wohl ebenso wenig gerechnet wie die Wählerinnen und Wähler von Beate Meinl-Reisinger mit deren Aufrücken: Die Mehrheit der Parteistimmen galt wohl doch dem Parteigründer Matthias Strolz.

2013 – Matthias Strolz hatte allen Grund zum Jubel.
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Dieser hatte die Neos durchaus als eine Bewegung der Vielfalt aufgezogen – mit einer ähnlichen Breite wie Peter Pilz oder auch Sebastian Kurz. Denn auch der heutige Bundeskanzler hat erfolgreich versucht, sich vom Parteiapparat und den üblichen internen Abwägungen, wer welches Interessengrüppchen vertreten soll, zu befreien. Kurz hat seine Liste weitgehend eigenständig zusammengestellt, hat Prominente daraufgesetzt und sogar frühere Parteigänger anderer Parteien.

Auch Strolz wäre wohl auf der Liste Kurz willkommen gewesen, doch der wollte das Projekt Neos weiterführen. Neos selbst hatten ja von Anfang an den Anspruch, eine modernere, klar europafreundliche, womöglich bessere Volkspartei (Strolz träumt weiterhin von bis zu 20 Prozent der Wähler für die Neos) zu sein.

Überholtes Parteiensystem

Natürlich hat man auch im politischen Berlin den Aufstieg von Kurz interessiert beobachtet. Und so manch einer überlegte, ob dessen Vorgehensweise auch auf die CDU umlegbar wäre. Man stelle sich vor, der junge, ehrgeizige Gesundheitsminister würde sich an die Spitze einer solchen "Bewegung" stellen. Dann hieße das Projekt eben: "Liste Jens Spahn, die neue CDU".

"Das wäre wohl in Deutschland nicht denkbar", sagt Simon Teune vom Zentrum Technik und Gesellschaft der TU-Berlin. Schließlich sei die Stellung der Parteien in Deutschland recht stark. "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei", heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes.

Dennoch ist auch in Deutschland die Meinung verbreitet, dass das etablierte Parteiensystem ohnehin überholt sei – eine Annahme, die sich inzwischen auch auf die Betrachtung der Gesellschaft jenseits der Politik ausgeweitet hat. "Niemand will mehr einem Klub angehören, aber viele wollen sich für ein Anliegen einsetzen, Teil einer Bewegung sein", sagt etwa die amerikanische Trendforscherin und Marketingspezialistin Kelly McDonald, Autorin des Bestsellers "How to Work With & Lead People Not Like You".

Entwicklung in Europa

Ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass diese Entwicklung längst schon ganz konkrete Folgen zur neuen Machtverteilung zeitigt. Österreich ist diesbezüglich eher Nachzügler.

Beispiel Frankreich: Dort wurde mit Emmanuel Macron vor einem Jahr ein Mann Staatspräsident, der den Bruch mit dem etablierten Parteiensystem und dessen Korruptionsaffären aufzuräumen versprach. Ironischerweise tat er dies, indem er rechtzeitig seine sozialistische Partei verließ, der er als Wirtschaftsminister diente, um dann als Unabhängiger seiner Bewegung En Marche zu reüssieren.

Emmanuel Macron wurde vor einem Jahr zum Staatspräsident Frankreichs gewählt.
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Getragen wurde Macron dabei vor allem von der Mobilisierungskraft junger Leute, die sich für seine Europa- und Modernisierungsversprechen begeisterten. Bei den nachfolgenden Parlamentswahlen räumte Macrons Bewegung die Mehrheit in der Nationalversammlung ab. Die Sache hatte einen langen Vorlauf.

Im Jahr 2010 hatte der (inzwischen verstorbene) Ex-Diplomat Stéphane Hessel in die Finanz- und Wirtschaftskrise hinein die Gier und den Finanzkapitalismus in einem dünnen Essayband attackiert. "Empört Euch!" verkaufte sich eine Million Mal, mobilisierte die Jungen, sich für Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit einzusetzen. In gewisser Weise legte das bereits eine Basis für den Erfolg Macrons.

Nicht unähnlich verlief die Auflösung des über Jahrzehnte dominierenden Zwei-Parteien-Systems in Spanien, das von einer Linksbewegung und den liberalen Ciudados ausgehebelt wurde. Die Folge: Mehrheiten zur Regierungsbildung wurden in Spanien viel schwieriger.

Zersplitterung in viele Kleinparteien

In Belgien und den Niederlanden erlebte das klassische Spektrum der Traditionsparteien, die sich wechselweise die Macht aufteilen, durch Zersplitterung in viele Kleinparteien EU-weit einen Höhepunkt, provozierte rekordverdächtig langwierige Koalitionsverhandlungen, die in Belgien zuletzt 542 Tage dauerten.

In den Niederlanden teilen sich seit den Wahlen 2017 nicht weniger als 13 Parteien die 150 Parlamentssitze. Nur die Rechtsliberalen von Premier Mark Rutte kamen auf knapp mehr als 20 Prozent Wähleranteil, die zweitstärkste Ein-Mann-Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders auf nur 13 Prozent.

Auch Deutschland ist vom Bewegungsfieber nicht verschont. So fordert AfD-Rechtsaußen Björn Höcke, dass die AfD "Bewegungspartei" bleiben müsse, also nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf der Straße präsent sein solle.

Ob Österreich da vergleichbar ist? Der deutsche Politologe Teune hält das Konzept der neuen Bewegungen, wie sie etwa Kurz propagiert, für leicht durchschaubar: "Das ist nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen." Bewegung, so Teune, suggeriere, dass hier von unten etwas entstehe, dass sich – wie bei der Friedens-, Umwelt- oder Frauenbewegung – viele Gleichgesinnte zusammentun. Das, was andernorts als Bewegung verkauft werde, sei aber "ein bloß geringfügig verändertes Parteien projekt" und eher undemokratisch.

Dass Angela Merkel sich plötzlich an die Spitze einer Bewegung stellt, kann man sich nicht vorstellen. Die SPD versucht sich zwar gerade durch allerlei Reformen (mehr Mitbestimmung durch die Basis) attraktiver zu machen, es wird aber gern betont, welch stolze und traditionsreiche Partei sie sei.

Einladend unverbindlich

Die Behauptung, dass die gewohnten Organisationsformen – und hier speziell die politischen Organisationsformen – nicht mehr zeitgemäß wären, ist ohnehin nicht ganz neu, sie wurde von den Anarchisten des 19. Jahrhunderts ebenso wie von Lenin, der 1902 in "Was tun?" die gekaderte "Partei neuen Typus" zum Vorbild erkor, aufgestellt.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums waren es die Faschisten, die zu ähnlichen Modellen kamen – zu Parteien, deren Mitglieder keine Mitsprache hatten. Während traditionelle Sozialisten und Christlichsoziale, Liberale und Nationale ihre jeweiligen Anhänger in Parteistrukturen eingliederten, waren die Nazis gar nicht erpicht darauf, viele Mitglieder zu haben – schon 1926 versuchte sich die von internen Zweifeln und Zerwürfnissen geprägte österreichische NSDAP als Bewegung und setzte dem Parteinamen die Bezeichnung "Hitlerbewegung" hinzu.

Eine Bewegung, die hat so etwas einladend Unverbindliches an sich: Man ist als Einzelner nicht daran gebunden, bei allem mitzumachen (und wird zumindest formell auch nicht daran gehindert, nebenbei anderswo mitzumachen). Man muss nicht jedem Detail eines Programms zustimmen, man muss dieses nicht einmal annähernd kennen, wenn man nur an die jeweils in den Vordergrund gestellte Sache glaubt oder auch der im Vordergrund stehenden Person vertraut.

Bei der Hitlerbewegung haben sich anschließend auch viele darauf ausgeredet, dass sie ja bloße "Mitläufer" gewesen wären. Und nach 1945 war wohl mancher, der sich vorher vergeblich um eine NSDAP-Mitgliedschaft beworben hatte, froh, wenn er doch nicht aufgenommen worden war: Im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen galten Parteigenossen nämlich generell als zumindest "minderbelastet" und damit sühnepflichtig.

Das schreckliche Beispiel der NSDAP-Herrschaft schreckte allerdings nach 1945 nicht davor ab, gleich wieder Parteien zu gründen – allerdings ausdrücklich solche, die an alte Traditionen der liberalen Demokratie anknüpften.

Persönliches Engagement

Gleichzeitig wollten die drei Gründungsparteien der Zweiten Republik eine umfassende Daseinsvorsorge für ihre Mitglieder bieten: Nicht zuletzt, weil die Vergabe von Wiener Gemeindewohnungen in "roter Hand" war, konnte die SPÖ allein in Wien zeitweise 400.000 Mitglieder verbuchen. Heute organisiert sie bundesweit etwa 180.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.

Eine davon ist Eva-Maria Holzleitner. Sie zog im November des Vorjahres über die SPÖ-Landesliste in den Nationalrat ein. Der Schritt war für die 25-jährige Studentin der Sozialwissenschaften ein durchaus großer: von der Welser SPÖ-Sektion Lichtenegg-Noitzmühle in das höchste politische Gremium des Landes.

Ob man als junger Mensch in die Politik gehe, sei eine "Typfrage", sagt Holzleitner: "Insbesondere die, die bereits in der Schule zu politisieren beginnen, gehen diesen Weg oft konsequent weiter. Man ist Klassensprecher oder Schulsprecher, kommt zu einer Schülervertretung, engagiert sich in der Heimatgemeinde. So war es bei es mir – ich bin aber sicher kein Einzelfall."

Die Möglichkeit, persönliches Engagement abseits der Politik einzubringen, hat die rote Nachwuchshoffnung aus schwarzem Elternhaus für sich ausgeschlossen: "Einfach weil die vier Grundwerte der SPÖ genau dem entsprechen, wie ich mir ein gutes Zusammenleben vorstelle." Eine klassische Parteikarriere gebe es für Jungpolitiker heute übrigens nicht mehr, ist Holzleitner überzeugt. "Nix ist fix, es entscheidet sich von Wahl zu Wahl. Ich plane ja auch nicht, in der Politik alt zu werden. Ich mache mein Studium fertig, und wenn’s mit der Politik nichts mehr ist, suche ich mir einen Job. Es muss nicht zwingend sein, dass der nächste Schritt von der SPÖ-Mandatarin der zur Arbeiterkammer ist."

Versorgung loyaler Anhänger

Andererseits ist die Vorstellung, dass Parteien abgeschlossene Welten mit Versorgungssystemen für ihre loyalen Anhänger wären, kaum auszurotten. Als Ende der 1940er-Jahre der Parteienproporz zwischen ÖVP und SPÖ so richtig aufgeblüht war, entstand im Gegenzug der Verband der Unabhängigen (VdU), eine Sammelbewegung von Liberalen, Deutschnationalen und versprengten Exnazis, die weder bei SPÖ noch ÖVP andocken konnten oder wollten. Erst später wurde daraus die Freiheitliche Partei.

Es war dann Jörg Haider, der sich im engen Korsett von Parteiprogrammen, Parteistatuten und Parteigliederungen nicht mehr wohlgefühlt hat. Ende 1994 hat Haider in einem Nebensatz einer Wahlrede angekündigt, dass er die Freiheitliche Partei in eine Bürgerbewegung umbauen würde.

Für die Organisation bedeutsamer war, dass mit der Parteistruktur auch die politischen Gewichtungen verändert wurden. Statt Mitglieder und Funktionäre über die Kandidatenlisten entscheiden zu lassen, sollten Wahlkonvente einberufen werden, bei denen jeder Interessierte eingeladen wäre.

Das hatte für Haider den angenehmen Effekt, dass er als ausgewiesener Politsuperstar auf parteiinterne Kritik an seiner politischen Sprunghaftigkeit keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Andererseits haben sich die Wahlkonvente nicht durchgesetzt, denn da organisierten sich zum Ärger von Haiders Buberlpartie die altgedienten Funktionäre ihre alten Mehrheiten.

Dazu kam dann noch ein nicht unwesentlicher Aspekt, den der deutsche Politik forscher Teune betont: Staatliche Förderung gibt es in Österreich – ähnlich wie in Deutschland – eben nur für Parteien, nicht für irgendwelche losen Bündnisse. Selbst die Alternative für Deutschland, die die etablierten Parteien – ähnlich wie das in Österreich die FPÖ tut – als "Altparteien" bezeichnet und eigentlich ganz anders sein möchte, erklärt immer wieder, dass sie eine noch junge Partei sei. Und sie kassiert.

Reumütig kehrte auch die Haider-FPÖ dem Bewegungsprinzip den Rücken und kehrte zur alten Struktur und dem alten Namen zurück. Gerade rechtzeitig für die dann noch erfolgreichere Wahl 1999.

Bewährte Mobilisierungsstrukturen

Aus dieser Erfahrung der Freiheitlichen hat wohl auch Kurz gelernt: Ganz ohne Strukturen kann eine politische Bewegung keine Kampagnen führen und Wahlen gewinnen – und die Liste Kurz führte virtuos vor, wie man einerseits auf bewährte Mobilisierungsstrukturen zurückgreift und andererseits unabhängig wahlkämpfen kann.

Wobei die Unabhängigkeit von Kurz vor allem eine finanzielle war: Er schaffte es, eigene Mittel aufzustellen und damit das in der föderalen Parteistruktur mit ihren reichen Landesparteien gültige Prinzip "Wer zahlt, schafft an" auszuhebeln.

Die Liste Kurz führte virtuos vor, wie man einerseits auf bewährte Mobilisierungsstrukturen zurückgreift und andererseits unabhängig wahlkämpfen kann.
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Dem europäischen Trend hin zu politischen Bewegungen weg von den klassischen Parteien kann die oberösterreichische SPÖ-Abgeordnete Holzleitner, die auch Landesvorsitzende der Jungen Generation der SPÖ in Oberösterreich ist, nichts abgewinnen: "Die Wähler wollen wissen, was die Inhalte sind. Und das weiß man eben bei klassischen Parteien. Da ist klar, wofür sie stehen und wofür sie sich einsetzen. Das Konzept der Parteien ist daher sicher nicht überholt."

Damit widerspricht sie einem seit den 1970er-Jahren auch in ihrer Partei etablierten Trend, auf Persönlichkeiten zu setzen: Da wurde einerseits auch "Quereinsteigern" eine Chance gegeben – andererseits wurde immer stärker der Spitzenkandidat (Wahlkampfslogan 1975: "Kreisky – wer sonst?") in den Vordergrund und über Partei- und Wahlprogramm gestellt. Gemeinsam mit der ÖVP haben die Sozialdemokraten sodann das Persönlichkeitswahlrecht ausgebaut.

Denn schon vor 40 Jahren sprach man von einer Politikverdrossenheit, die eigentlich eine Parteienverdrossenheit sei – der damals populäre Obmann der viel weniger populären Wiener ÖVP versteckte denn auch seine Landespartei hinter einem auf seine Person und viel niederschwellige Bürgerbeteiligung ausgerichteten, "Pro Wien" genannten Verein und hatte damit bei den Gemeinderatswahlen 1978 und 1983 Erfolg.

Die auch im Wahlrecht mit der Betonung von Vorzugsstimmen abgebildete Personalisierung der Politik ist allerdings eine Fiktion. Wer "nur dem Wähler verantwortlich" ist, ist in Wirklichkeit niemandem verantwortlich. So hat die Unverbindlichkeit politischer Bewegungen ihre Kehrseite: Sie bindet die politische Führung nämlich nicht.

Wer sich für ein Anliegen starkmachen will, ist willkommen, sich einer Bewegung anzuschließen – gestalten kann er oder sie aber nicht. Das haben die Wahlbewegungen mit den – auch nicht unpolitischen – Umweltorganisationen gemeinsam: Da gibt es keine Programmdiskussionen, keine Parteitage, keine Wahl von Funktionären. Im Demokratievergleich sieht die Parteiendemokratie also gar nicht so alt aus. (Conrad Seidl, Mitarbeit: Birgit Baumann (Berlin), Thomas Mayer (Brüssel), Markus Rohrhofer 12.5.2018)