Vormarsch der Populisten – wie hier Anti-Migrations-Proteste der deutschen AfD – fordert die etablierten Parteien.

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Ob FPÖ, AfD oder Viktor Orban. Der Vormarsch der Populisten ist in den Augen des Wissenschaftlers Peter Hall vor allem eine Folge der Migration und der wirtschaftlichen Unzufriedenheit großer Bevölkerungsschichten. Der Harvard-Professor warnt davor, auf die Entwicklung mit einer Vertiefung der EU-Integration zu reagieren. Den Willen der Bürger zu ignorieren, hält er für "gefährlich".

STANDARD: Worin sehen Sie die Hauptgründe für die große EU-Skepsis?

Hall: Jedes Volk ist unglücklich, aber jedes auf seine eigene Art. Migration und Flüchtlingsströme spielen in Österreich und Deutschland eine größere Rolle, während in Spanien und Griechenland die Folgen der Eurokrise dominieren. Quer durch Europa gab es über Jahrzehnte hinweg eine schwache Prosperität und eine ungleiche Verteilung, die Technologisierung brachte einen Wegfall von Jobs. Die Politik hat die wirtschaftlichen Folgen für einfache Leute intensiviert. Rund ein Viertel der Leute in der EU ist wirtschaftlich unzufrieden und befürchtet, dass die Kinder keine Aussichten auf ein gutes Leben haben. Die Wut der Bürger richtet sich gegen die EU.

Die Politik hat nicht angemessen auf den Abstieg von Bevölkerungsgruppen reagiert, meint Peter Hall.
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STANDARD: Das ist nicht nur in der EU so.

Hall: Stimmt. Donald Trump hat auch viel gemeinsam mit Marine Le Pen, Ukip, AfD und FPÖ. Sie kanalisieren den Zorn auf die Politik. Egal, welche der etablierten Parteien die Leute in den letzten Jahrzehnten gewählt haben, es hat sich nichts geändert. Sie haben das Gefühl, dass niemand auf sie hört. Die Politik hat scheinbar nicht auf diese wirtschaftlichen Entwicklungen reagiert und macht die EU für vieles verantwortlich.

STANDARD: Es gibt auch Zulauf für linke Populisten. Wer wendet sich tendenziell nach rechts, wer nach links?

Hall: Migration hat eher rechten Populismus gefördert, wirtschaftlicher Niedergang eher linken, beispielsweise in Italien und Griechenland.

STANDARD: Wie sollte die EU reagieren – mit verstärkter Integration?

Hall: Ich sehe hier ein Paradoxon: Die Eliten sehen die Lösung der Probleme in der Übertragung nationaler Kompetenzen an die EU. Umfragen und Gespräche mit einfachen Leuten lassen aber erkennen, dass das Volk mehr Rechte für die Mitgliedsstaaten befürworten. Letztes Jahr sprachen sich 65 Prozent der Österreicher für mehr nationale Kompetenzen und weniger EU-Zuständigkeiten aus. Damit liegt Österreich leicht über dem EU-Schnitt.

STANDARD: Was ist Ihre Meinung?

Hall: Die EU sollte die Regulierung in mehreren Bereichen reduzieren und den nationalen Regierungen mehr Freiraum geben. Das kann die politischen Probleme zwar nicht sofort lösen, aber meine Befürchtung ist, dass ein weiterer Transfer von Kompetenzen nach Brüssel von der Bevölkerung als undemokratischer Schritt empfunden wird und die Unzufriedenheit nur erhöht. Das würde den Glauben der Europäer in Demokratie unterminieren. Wenn es nach mir ginge, sollte die EU eine noch viel tiefere Integration anstreben. Aber ich befürchte, dass das Wishful Thinking ist. Den Willen der Bürger zu ignorieren ist einfach zu gefährlich. Das würde den Populisten – links oder rechts – in die Hände spielen, die die EU demontieren oder aus ihr austreten wollen.

STANDARD: Welcher Politikbereich ist da besonders sensibel?

Hall: Die Sozialpolitik. Wenn die EU beispielsweise arbeitsrechtliche Belange regelt, wird das in der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten als Einschränkung der Demokratie gewertet.

STANDARD: Wie würde sich eine Desintegration mit der Währungsunion vertragen?

Hall: Für das Funktionieren einer Währungsunion ist vor allem die gemeinsame Übernahme von Risiken bedeutsam. Eine Abgabe von Souveränität muss damit aber nicht verbunden sein.

Peter Hall (67) ist ein kanadischer Wirtschafts- und Politikwissenschafter und Professor der Krupp Foundation for European Studies an der Harvard University. Hall trat bei einem Symposium der Nationalbank auf, bei dem über Österreichs Rolle in Europa diskutiert wurde. (INTERVIEW: Andreas Schnauder, 10.5.2018)