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Nationalfeiertag am Heldenplatz: Kinder auf Kriegsgerät, aber die Neutralität als Raison d'être.

Foto: Ronald Zak/dapd

Der beständige Debattenzyklus um den gegenwärtigen Wert der Neutralität entspricht mittlerweile dem der Jahreszeiten. Ist sie anachronistisch-charmant wie die Lipizzaner? Unabdingbar-österreichisch wie Mozartkugeln? Gar ein Ass im Ärmel für einen internationalen Brückenbauer? Die reflexartige Gewohnheit vieler Österreicher, ihre Neutralität als politisches Naturgesetz zu zelebrieren, ist zweifelsohne ihrem Nutzen in der bipolaren Welt des Kalten Krieges geschuldet (siehe auch Stefan Lehne an dieser Stelle "Österreich: Von der Neutralität zur Solidarität und retour?"). "Situationselastisch" anwendbar avancierte die immerwährende Neutralität zur alpenrepublikanischen Raison d'être. Sie wurde zur orthodoxen Gewohnheit, zum außenpolitischen Konsens der Gesellschaft.

Diese Zwickmühle, in der sich die handelnden Akteure seit jeher befindet, ist der Ansporn der vollwertigen Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf der einen, und die gesellschaftliche Verherrlichung des Goldenen Kalbs der Neutralität auf der anderen Seite. Reflexartig verstecken wir uns hinter unserer Neutralität und mindern somit unsere potenzielle Schlagkraft auf europäischer Ebene. Dies hemmt unseren Handlungsspielraum enorm.

Proaktiv handeln und ...

Es ist frappierend zu sehen, wie andere EU Staaten (fünf davon ebenfalls mehr oder weniger neutral) sich mittlerweile den außenpolitischen Werkzeugen, die ihnen die GASP bietet, proaktiv bemächtigen, während man in Österreich immer noch mit dem sinnstiftenden Faktor Neutralität hadert. Auch diese anderen fünf sind schlussendlich weder der Nato beigetreten, noch waren sie in militärische Konflikte verwickelt.

Man nehme Schweden, einen Staat, der seit einem Dekret von König Karl Johann XIV. von 1810 neutral ist und daher mit einer wesentlich längeren Tradition der "Alliansfrihet" als Österreich hat: Alljährlich evoziert das Königreich in seinen außenpolitischen Berichten, wie es zielgerichtet mittels seiner GASP-Teilnahme globale Schwerpunkte zu setzen gedenkt. Dem Eurobarometer nach erkennt die dortige Bevölkerung auch den Mehrwert seiner EU-Mitgliedschaft für die Umsetzung seiner internationalen Politik schwedischer Prägung: 2015 waren dies gar 43 Prozent, damals der höchste EU-Wert. Ganze 86 Prozent meinten überdies, die Stimme der EU zähle etwas in der Welt.

Die Schweden begreifen also die GASP als außenpolitisches Synergievehikel und nicht als Antipol zu ihrem Selbstverständnis als bündnisfreie Nation. Eingebettet in eine Gemeinschaft ähnlich gesinnter Staaten werden dort erhebliche Ressourcen, Personal und Themensetzungen aufgebracht, um die Mechanismen der GASP effizient für sich zu nutzen.

Hinterfragen der Verhaltensmuster

Österreich besäße ebenfalls all diese Mittel, um stärker zu agieren, als es das bisher vermuten ließ. Folglich sollten wir hierzulande unsere kollektiven Verhaltensmuster stärker hinterfragen. Denn unsere eingespielte Neutralitätsgewohnheit lähmt uns, als Vorreiter europaweit außenpolitische Akzente zu setzen. Die Art von Neutralität, die sich Österreich besonders unter Kreisky angeeignet hat, scheint den Anforderungen und sogar den Nachfragen der heutigen Welt nicht mehr in deren Form angemessen.

Die russische Zurückweisung einer österreichischen Mediation als neutraler Vermittler im Syrienkonflikt versinnbildlichte dies kürzlich. Heute drängen sich mehr Brückenbauer denn je auf dem internationalen Parkett, und Österreich muss außenpolitisch innovativ bleiben, um sich Gehör zu verschaffen. Daher bedarf es einer mutigen Bewusstseinsbildung, um die Augen der österreichischen Öffentlichkeit für den Mehrwert einer europäischen Außenpolitik zu öffnen – für die Werkzeuge, die wir bereits jetzt schon wesentlich virtuoser einsetzen könnten. Wozu noch an einem viktorianischen Hochrad der Neutralität herumschrauben, wenn wir bereits die Schlüssel zu einem einsatzbereiten europäischen Hybridallradauto besitzen?

Österreichs Diplomaten gelten als höchstqualifiziert und werden für ihre Kompetenz geschätzt – ein Umstand, den der kanadische Politikwissenschafter Vincent Pouilot in seinem Buch International Pecking Orders über multilaterale Organisationen erst kürzlich wieder attestiert hat. Ebendiese Stärken gilt es daher auf europäischer Ebene bedingungslos zu fördern, um die Klaviatur der GASP bestmöglich bespielen zu können.

... rational argumentieren

Wir sollten rational argumentieren: Das adäquate Mittel der Zeit ist für ein Land unserer Größe, mehr Gewicht im europäischen Konzert zu gewinnen. Die derzeitige gesellschaftlich selbst vorgegaukelte "Quasineutralität" – nicht Fisch und nicht Fleisch, nicht Ost und nicht West, nicht oben und nicht unten – erschwert diese Bestrebungen. Kurzum, sie liefert nicht länger, was sie einst versprach. Unsere Prioritäten und Werte, wie etwa multilateraler Konsens, Frieden, Dialog in alle Richtungen und internationale Rechtsstaatlichkeit, würden sich durch ein Überdenken der bisherigen Neutralität ja nicht ändern.

Gleichwohl wären diese aber kompetenter europäischer GASP-Partner einfacher zu materialisieren. Unser Platz ist im Herzen Europas, und unsere außenpolitische Aorta sollte im Gleichklang schlagen. (Jakob Lundwall, 8.5.2018)