Viele kennen das Gefühl nach einem lauten Konzert: das anhaltende Pfeifen oder Rauschen in den Ohren. Meist verschwinden diese Geräusche bald wieder von allein, nicht so bei einem Tinnitus.

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Wirkliche Stille gibt es eigentlich nicht. Das liegt daran, dass in jedem gesunden Ohr ständig Geräusche und Töne produziert werden. Verantwortlich dafür sind tausende Haarzellen im Innenohr. Durch ihre spontane Aktivität ziehen sich die Härchen im Ohr zusammen – das hört man. Wenn wir glauben, dass es völlig still ist, macht uns das Gehirn etwas vor. "Stille ist eine Illusion des Gehirns, da es gelernt hat, all die Geräusche, die bei Ruhe vom Innenohr kommen, auszufiltern", erklärt Johannes Schobel, Gründer des Tinnituszentrums in St. Pölten.

Schlimm wird es, wenn das Pfeifen oder Rauschen in den Ohren nicht mehr nachlässt. Dann wird von einem Tinnitus gesprochen. Er kann viele unterschiedliche organische und nichtorganische Ursachen haben, vom Hörsturz bis zum Stress. Beim sehr häufig vorkommenden subjektiven Tinnitus sind die Geräusche nur vom Betroffenen selbst wahrnehmbar. Beim selteneren objektiven Tinnitus hört auch beispielsweise der Arzt mit dem Stethoskop das Rauschen oder Pfeifen.

Egal um welche Form es sich handelt: Ein Großteil der Betroffenen nimmt das Ohrgeräusch nicht als störend wahr. Ein kleinerer Teil aber schon. Bei diesen Menschen stuft das limbische System, das für das Gefühlsleben zuständig ist, den Tinnitus als Bedrohung ein. Die dadurch entstehenden Ängste und Sorgen können zu Einschränkungen der Lebensqualität führen, etwa zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Lustlosigkeit, sozialer Isolation bis hin zu Depressionen.

Medikamentöse Therapie

In welchem Ausmaß Tinnitus als unangenehm empfunden wird, hängt von seiner Art und der Penetranz ab. In der Medizin wird Tinnitus in vier subjektive Belastungsgrade eingeteilt – von keinem bis hohem Leidensdruck. "Bei einem Rauschgeräusch, das an aus der Umwelt vertraute Töne wie Meeres- oder Bäumerauschen erinnert, gehen die wenigsten Betroffenen zum Arzt", erklärt Schobel. Problematisch sind meist hohe, singende, unnatürliche Töne wie Sirenenklänge, weil die Gefühlsebene diese nur schwer akzeptieren kann. Bei niedriger Penetranz können sich Patienten häufig tagsüber durch Umgebungsgeräusche ablenken. Ist das Ohrgeräusch sehr aufdringlich, stört es selbst bei lauter Umgebung wie Konzert- oder Theaterbesuchen.

Die Frage, ob Tinnitus heilbar ist, lässt sich mit Jein beantworten. Die Gründe für etwaige Erfolge lassen sich aber schwer nachweisen. Akuter Tinnitus, zum Beispiel ausgelöst durch einen Hörsturz oder Stress, dauert Tage, Wochen oder bis zu mehrere Monate an. Er ist mittels Cortison gut behandelbar, zum Beispiel in Form von Tabletten. Neuer ist jene Behandlungsform, bei der das Cortison durch das Trommelfell ins Mittelohr geleitet wird. Erreicht es die Hörschnecke und damit die Haarzellen, wirkt es weitaus effektiver als zum Beispiel bei der Einnahme von Tabletten.

Ob der akute Tinnitus letztendlich von selbst wieder verschwunden ist oder durch die Medikamente, lässt sich schwer nachvollziehen. "Bei rund zwei Dritteln der Betroffenen verschwinden die störenden Ohrgeräusch ohne Behandlung nach mehren Tagen oder Wochen wieder, das Zeitfenster ist sehr ungenau", sagt Tilman Keck, Vorstand der Abteilung für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde im Krankenhaus der Elisabethinen in Graz.

Mit chronischem Tinnitus leben

Allein das Wissen über die Hintergründe der möglichen Entstehung von Ohrgeräuschen könne Patienten bereits beruhigen. In Einzelfällen entstehe so eine subjektive Besserung des Tinnitus, da sein Erleben eng mit der psychischen Gesamtverfassung der Patienten verknüpft sei. "Generell sind die Studien der letzten Jahre widersprüchlich", sagt Keck. Die wissenschaftlichen Daten würden aber am ehesten für die Cortison-Behandlung sprechen.

Bei chronischem Tinnitus ist die Sache etwas komplizierter. In solchen Fällen muss dort angesetzt werden, wo er angesiedelt ist: im Gehirn. Es kommt häufig vor, dass ein Geräusch zwar im Ohr entsteht, aber auch nach Abklingen noch vom Gehirn wahrgenommen wird. "Auch wenn die Reizung im Ohr irgendwann abgeschlossen ist, bleibt das Gehirn in einer Dauererregung", erklärt Keck. Das Hirn wird sozusagen fehlgeleitet. "Langfristig handelt es sich beim Tinnitus also nicht um eine Ohr-, sondern um eine neurophysiologische Störung."

Chronische Ohrgeräusche lassen sich deshalb nicht medikamentös behandeln oder gar heilen – aber immerhin so therapieren, dass die Lebensqualität wieder gesteigert wird. "Chronischen Tinnitus kann man als geheilt betrachten, wenn ihn der Betroffene größtenteils nicht mehr hört und er nicht mehr als Störung wahrgenommen wird", sagt Schobel. Das heiße aber nicht, dass die Ohrgeräusche – besonders nachts, wenn es relativ ruhig ist – gar nicht mehr zu hören sind. Zudem müsse medizinisch abgeklärt werden, ob es sich nicht um andere, schwerwiegendere Erkrankungen handelt.

Kognitive Verhaltenstherapie kann helfen

Viele Betroffene haben die Ohrgeräusche tagsüber gut im Griff. Nachts, wenn es deutlich stiller ist, raubt der Tinnitus ihnen aber den Schlaf. Häufig sind hier kognitive Verhaltenstherapien hilfreich. In mehrwöchigen Sitzungen werden dabei Strategien erarbeitet, die den Patienten helfen, im Alltag besser mit ihrem Tinnitus-Problem umzugehen. So werden beispielsweise Techniken zur Entspannung und Stressbewältigung geübt oder Ablenkungsstrategien erarbeitet, um die Aufmerksamkeit vom Tinnitus wegzulenken.

In vielen Fällen leiden Menschen nicht nur an Tinnitus, sondern gleichzeitig an einer Hörschwäche, meist Schwerhörigkeit. Jede Art von Hörminderung fördert die Bildung eines Ohrgeräuschs. Die Frequenz des Tinnitus liegt meistens da, wo auch die größte Hörminderung besteht. Durch die Verwendung eines Hörgeräts kann zumeist auch der Tinnitus ausgeglichen werden. "Der Betroffene kann wieder besser hören und kommunizieren. Er erhält wieder mehr positive Impulse von außen. Das Verstehen der Umgebung hilft, das eigene Ohrgeräusch nicht mehr so laut wahrzunehmen", erklärt Keck.

Noiser schulen Gehirn um

Bei Normalhörenden, die unter singendem, penetrantem Tinnitus leiden, werden häufig Rauschgeneratoren verwendet. Die sogenannten Noiser schauen ähnlich aus wie kleine Hörgeräte und werden dem Patienten hinters Ohr gesetzt. Sie produzieren ein Weißes Rauschen, ein weiches Geräusch. "Das schafft einen positiven Kontrast zu dem in der Regel nervigen, hohen, pfeifenden Tinnitus", erklärt Schobel.

Der Tinnitus wird durch das Rauschen quasi abgefangen: Der Noiser ist so eingestellt, dass das Ohrgeräusch gerade noch durchkommt und dadurch viel weniger extrem wahrgenommen wird. So wird das Gehirn darin geschult, nicht den lästigen Tinnitus, sondern den Noiser wahrzunehmen.

Tagsüber werde das Ohrgeräusch von vielen Noiser-Patienten so gut wie gar nicht mehr gehört, so Schobel. "Das Gehirn bemerkt, dass der Noiser nur Hintergrundrauschen produziert und keine nutzbare Information. Wenn es den Noiser ausblendet, blendet es auch jenen Teil vom Tinnitus aus, der darunter liegt."

Harmlose Signalverarbeitungsstörung

Für eine erfolgreiche Tinnitustherapie muss dem Patienten die Angst vor dem Ohrgeräusch genommen werden. Deshalb ist eine ausführliche Aufklärung Teil einer jeden Behandlung. Ärztliche Aussagen wie "Damit müssen Sie leben" oder "Man kann nichts machen" stuft Schobel als kontraproduktiv ein. Vielmehr sei es wichtig, Betroffenen klarzumachen, dass Ohrengeräusche natürlich sind und man mit den passenden Maßnahmen wieder ein weitgehend normales Leben führen kann. "Man muss den Tinnitus entmystifizieren – er ist nicht mehr als eine harmlose Signalverarbeitungsstörung in unserem Zentralrechner."

Auch Keck weist auf eine ehrliche und intensive Aufklärung hin. Man müsse den Patienten mitteilen, dass 60 bis 70 Prozent der Ohrgeräusche wieder von selbst verschwinden. "Tinnitus ist kein Notfall, höchstens ein Eilfall. Wichtig ist eine kontinuierliche Begleitung des Patienten, um rechtzeitig intervenieren zu können", sagt er.

Psychosomatische Komponente

Da Tinnitus oft eine stark psychosomatische Komponente mit Begleiterscheinungen wie Angststörungen oder Depression hat, ist eine interdisziplinäre Herangehensweise von Vorteil. Etwa im Verbund von HNO-Arzt, Akustiker, Hörtrainer, Physiotherapeut sowie psychologischer Betreuung. Schobel arbeitet in seinem Tinnituszentrum mit einem Netzwerk von Experten zusammen. Keck verweist in diesem Kontext auf das Modell der Tinnituskliniken in Deutschland, die eine gesamtmedizinische Betreuung anbieten.

Immer wieder hört man im Zusammenhang mit Tinnitus auch von der hyperbaren Sauerstofftherapie. Dabei atmen Betroffene in einer Überdruckkammer reinen Sauerstoff über eine Maske ein. Keck spricht sich eindeutig gegen diese Behandlungsform aus, dadurch könnten sogar neue Ohrgeräusche entstehen. Sein Resümee: "Diese Therapie ist für andere Erkrankungen eine wichtige Option, hat sich aber beim Tinnitus nicht etabliert." (Maria Kapeller, 7.5.2018)