Die chinesische Starpianistin Yuja Wang spielte trotz kleiner Schwächung nach einer Krankheit souverän – und stylish ambitioniert.

Foto: Felix Broede / Deutsche Grammophon

Wien – Das kennt man sonst eigentlich nur aus der Oper: dass eine der mitwirkenden Bühnenkräfte als indisponiert angesagt wird. Beim Gastspiel der Rotterdamer Philharmoniker übernahm Yannick Nézet-Séguin die Rolle des Ansagers. Der kanadische Dirigent wies in einer kurzen Ansprache darauf hin, dass Yuja Wang, die Solistin von Rachmaninows viertem Klavierkonzert, in den letzten Tagen krank gewesen sei. Da sie aber hart im Nehmen sei ("She’s a trooper!"), werde sie trotzdem auftreten.

Dann stakste die chinesische Starpianistin in einem absinthgrünen Paillettenkleid zum Flügel, um sich dort Rachmaninows in den USA entstandenem, zwischen versonnenem Jazz und spätromantischem Bombast changierendem Werk zu widmen: fingerfertig und präzise, mit einer selbstverständlichen Perfektion und elegantem Understatement.

Ein bisschen wie Rihanna

Fallweise erinnerte Wang in ihrer stylishen Abgebrühtheit an die große Rihanna; wundervoll das gelassene, jazzige Intro des Largos. Der Steinway klang im Piano watteweich, im Forte jedoch etwas zu hart, wobei Wang bei den Orchester-Tutti trotzdem kaum zu hören war. Die 31-Jährige gab, wie sie es allerorten gern tut, Schuberts Gretchen am Spinnrade in einer Bearbeitung von Franz Liszt zu.

Vor dem Rachmaninow hatten Nézet-Séguin und sein Orchester mit einer frühen Haydn-Symphonie (f-Moll Hob. I/49) demonstriert, wie manche traditionellen Symphonieorchester Werke dieser Zeit zu interpretieren imstande sind: nämlich nicht nur auf unglaublich abwechslungsreiche und verführerische Weise, sondern auch den Erkenntnissen des historisch informierten Musizierens Rechnung tragend.

Gegen Drastik, für Distinguiertes

Der fahle, entschlackte Klang zu Beginn des Adagios war spinnwebenzart, ein Hauch von Tod wehte von der Bühne in den Großen Konzerthaussaal. Kurze Dur-Wendungen waren erfüllt mit Wärme und Fleisch. Beeindruckend, wie souverän die Niederländer hier mit der Musik der früheren Klassik umgingen; davon sind etwa die Wiener Philharmoniker in diesem Repertoirebereich noch weit entfernt.

Bei Tschaikowskys vierter Symphonie spielten die Rotterdamer Philharmoniker dann wieder groß besetzt auf, dennoch vermied Nézet-Séguin knallige Farben und Materialschlachten, bot stattdessen große, nobel arrangierte Tableaus. Im Zweifel entschied er sich gegen Drastik und für das Distinguierte – wie etwa bei der Präsentation des fanfarenartigen Schicksalsmotivs zu Beginn.

Tiptop in Form

Was die Tempi anbelangt, nahm sich der 43-Jährige immer wieder große Freiheiten heraus, verlangsamte bei manchem Ritardando im Kopfsatz den Gang der Dinge fast bis zum Stillstand, um dann umso leidenschaftlicher Fahrt aufzunehmen. Mitunter wurde hier die Grenze zur Manieriertheit gestreift. Bei der dynamischen Gestaltung des Pizzicato-Scherzos war es des Leisen fast zuviel, bei der Zugabe, der Pizzicato-Polka, düste er abschnittsweise ziemlich davon.

Dennoch: In den zehn Saisonen seiner Amtszeit als Chef hat Nézet-Séguin das Rotterdam Philharmonic Orchestra unzweifelhaft in die Weltspitze dirigiert. Da darf sich der großartige Lahav Shani also freuen: Der geniale Jungspund wird in Bälde einen Klangkörper übernehmen, der trotz seines Alters von 100 Jahren tiptop in Form ist. (Stefan Ender, 29.4.2018)