Michael Häupl wurde 1993 zum Wiener SPÖ-Chef gewählt. 1994 übernahm er schließlich das Amt des Wiener Bürgermeisters von seinem Vorgänger Helmut Zilk. Nach knapp einem Vierteljahrhundert übergibt Häupl an seinen Nachfolger Michael Ludwig. Die größte Herausforderung seiner Amtszeit war das Jahr 2015, als hunderttausende Flüchtlinge durch Wien geschleust wurden. Heute ist für Häupl klar: "Das darf sich nie mehr wiederholen." Trotzdem würde er sich wieder gleich verhalten: "Was hätten wir machen sollen?"

Die Zugewanderten würden Wien jedoch auch bereichern. Ein Kopftuchverbot will der Bürgermeister nicht. Das Alkoholverbot am Wiener Praterstern hingegen sei "gut", aber eine "Notmaßnahme", wie er im Interview mit dem STANDARD erklärt.

STANDARD: Erstmals hat Wien ein Alkoholverbot für einen öffentlichen Platz verhängt: den Praterstern. Sie haben das schon vor mehr als einem Jahr gefordert. Wer hat sich in der SPÖ gegen Ihren Vorstoß quergelegt?

Häupl: Egal. Ich halte die jetzige Lösung, ein temporäres Alkoholverbot, für gut. Es ist ein Experiment und wird in einem Jahr evaluiert.

STANDARD: Gibt es bereits Forderungen von Bezirken für weitere Alk-Verbotszonen?

Häupl: Natürlich gibt es diese. Wir hatten das Thema schon beim Karls- oder Schwedenplatz. Ich habe Respekt vor den Gegenargumenten des Wiener Drogenbeauftragten. Ich erlaube mir aber, anderer Meinung zu sein. Es passiert, dass die Meinung von Fachleuten der politischen Beurteilung nicht standhält. Im Regelfall hat sich die politische Beurteilung als richtig erwiesen.

Wiens Bürgermeister Michael Häupl hat "Respekt vor den Gegenargumenten des Wiener Drogenbeauftragten" gegen ein Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen. Trotzdem will er das Experiment wagen.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Die betroffenen Personen werden sich nicht in Luft auflösen. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass sich das Problem nur verlagern wird?

Häupl: Das ist richtig. Aber es soll das Signal gesetzt werden, dass Betrunkene, die Passagiere an einem der Verkehrsknotenpunkte Wiens belästigen, nicht erwünscht sind. Dasselbe gilt für Bettler. Wir wollen organisiertes Betteln nicht in der Stadt. Wenn jemand aus Not bettelt, helfen wir mit Obdachlosen- und Resozialisierungseinrichtungen.

STANDARD: Sind Sie für Bettelverbotszonen?

Häupl: Nein. Wir wollen die Hintermänner der organisierten Bettelei erwischen und nicht die Armen. Ein Bettelverbot finde ich nicht so super. Auch das Alkoholverbot ist eine Notmaßnahme, nur muss man sie setzen. Ich bin überzeugt, dass ein überwiegender Teil der Menschen in Wien das auch so sieht.

STANDARD: In Ihrer rund 25-jährigen Amtszeit ist Wien um 350.000 Einwohner gewachsen, der Migrationsanteil wird stetig höher. Wurden die Herausforderungen der Integration unterschätzt?

Häupl: Der Zuwachs ist für uns nicht verhinderbar. Wien ist das einzige Bundesland, das keine Staatsaußengrenze hat. Europa und Österreich haben die Möglichkeit, den Zuzug zu regeln. Wien hat das nicht. Unsere Aufgabe ist es, diejenigen, die zu uns kommen, in bestmöglicher Form in die Gesellschaft zu integrieren. Es gibt Dinge, die sind unumgänglich: dass man Deutsch kann und die Regeln des Zusammenlebens akzeptiert. Die Einhaltung der Menschenrechte, die Gleichstellung von Frauen oder der Schutz von Kindern sind unverhandelbar. Ein muslimischer Vater kann seiner Tochter nicht verbieten, in die Schule zu gehen. Aber das Mädchen soll selbst entscheiden, ob es ein Kopftuch trägt oder nicht. Beides ist mir recht, ich habe keinen hysterischen Bezug dazu.

STANDARD: Also kein Kopftuchverbot, wie es Teile der Wiener SPÖ gefordert haben?

Häupl: Nein. Die muslimischen Mädchen mit den Kopftüchern, die gekommen sind, sind heute eher eine Bereicherung des Stadtbildes. Auch wenn es noch immer Leute gibt, die motschgern. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Wenn meine Mutter zum Greißler einkaufen gegangen ist, hat sie auch das Kopftuch umgebunden gehabt.

Für Wiens Bürgermeister Michael Häupl war die Flüchtlingskrise 2015 die "größte Herausforderung" der Amtszeit.
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STANDARD: 2015 und 2016 wurden fast eine Million Flüchtlinge durch Wien geschleust, zehntausende blieben hier. Wie sehen Sie die Ereignisse retrospektiv?

Häupl: Das war die größte Herausforderung meiner Amtszeit – und das mitten im Gemeinderatswahlkampf. Das darf sich nie mehr wiederholen. Alle, die so schlau sind und gesagt haben: Die hätten wir nicht reinlassen dürfen: Was hätten wir machen sollen? Hätten wir an der burgenländischen Grenze schießen lassen sollen?

STANDARD: Am Höhepunkt der Flüchtlingskrise zitierten Sie Luther und sagten: "Hier stehe ich – ich kann nicht anders." Würden Sie die Aussage heute wieder so treffen?

Häupl: Selbstverständlich. Die derzeitige Realität im Flüchtlingsbereich ist weit weg von den Fantasien von Innenminister Herbert Kickl. Er lebt davon, das als Katastrophe darzustellen. Aber die haben wir nicht. Heute hat niemand mehr Angst.

STANDARD: Bei der Mindestsicherung stellt die Gruppe der ausländischen Staatsbürger mittlerweile die Mehrheit. Ist das aus dem Ruder gelaufen?

Häupl: Nein. Die Mindestsicherung ist die letzte soziale Hilfe, die es gibt. Wenn man das nicht will, muss man das Bundesgesetz und die Menschenrechte ändern. Die Trennung zwischen Österreichern und Menschen mit Flüchtlingsstatus geht nicht. Ich trete für die Einhaltung unserer Gesetze ein. Das kostet uns eine Menge Geld. Niederösterreich hat sich mit einer Regelung, die vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, ein paar Monate etwas erspart. Das ist zynisch und menschenverachtend. Das mache ich nicht.

STANDARD: Dennoch haben viele Bundesländer gekürzt. In Wien hat sich die Zahl der Bezieher seit 2010 fast verdoppelt.

Häupl: Momentan sinkt die Zahl. Wir wollen Bezieher in den Arbeitsprozess rückführen, darauf setzen wir. Zugegeben: Das funktioniert in Phasen wirtschaftlicher Prosperität, wie wir es jetzt haben. In einer neuen Wirtschaftskrise, die nicht absehbar ist, wäre es anders.

Will die Bundesregierung Wien ein einheitliches Gesetz über die Mindestsicherung aufdrängen, muss sie auch die Kosten tragen, sagt Bürgermeister Michael Häupl.
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STANDARD: Die Bundesregierung will die Mindestsicherung bei neu Zugezogenen kürzen.

Häupl: Wenn es ein bundeseinheitliches Gesetz gibt, muss der Bund auch alles zahlen. Das ist der Einhakpunkt für ein Land mit einer neuerlichen Klage beim Verfassungsgerichtshof. Ich kürze nicht bei jemandem, der einen Monat lang mit dem Geld auskommen muss, das manche der Sozialkürzer von ÖVP und FPÖ an einem einzigen Abend beim Essen mit Freunden ausgeben. Das ist eine Schande.

STANDARD: Ihr Nachfolger Michael Ludwig sprach sich bereits für eine mögliche Wartefrist für neu nach Wien Zugezogene aus. Können Sie damit etwas anfangen?

Häupl: Ich bin anderer Meinung. Was sollen Menschen machen, die kein Einkommen haben? Es gibt zwei Möglichkeiten: sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten – in der Regel mit Schwarzarbeit. Oder man geht stehlen. Aus meiner Sicht ist das eine kontraproduktive Maßnahme.

STANDARD: Sie befürchten, dass bei Verschärfungen die Kriminalität steigt?

Häupl: Haarscharf so ist es. Wer Armut befördert, befördert auch Kriminalität.

STANDARD: Der Richtungsstreit in der SPÖ hat mit dem Lager um Ludwig einen klaren Gewinner hervorgebracht. Viele aus ihrem langjährigen Team haben bereits ihre Rücktritte bekanntgegeben. Zerbröselt es?

Häupl: Es ist völlig normal, dass ein neuer Bürgermeister sich ein neues Team sucht.

STANDARD: Wird das ein völliger Neustart der Wiener SPÖ?

Häupl: Ich habe aus dem Team von Helmut Zilk auch nur Rudolf Edlinger und Sepp Rieder übernommen. Neiche Gsichter, neiche Leit, pfiat di Gott, du alte Zeit. Das ist so und auch völlig normal.

STANDARD: Ludwig hat angekündigt, sich als Brückenbauer zu betätigen und die zerstrittene Wiener SPÖ zu einen. Wie ist es um die Einigkeit bestellt?

Häupl: Inhaltlich gesehen war sie es immer. Wir haben einstimmige Beschlüsse zur FPÖ, Integration, Migration. Es war eine emotionelle Geschichte. Das war's jetzt, die Sache ist entschieden. Und 90 Prozent der Parteifreunde sehen das auch so.

STANDARD: Sind die restlichen zehn Prozent die, die jetzt zurücktreten müssen?

Häupl: Nein. Es gibt halt Leute bei uns, die das emotionell noch nicht ganz überwunden haben. Mittlerweile werden es schon mehr als 95 Prozent sein. Selbst auf dem Höhepunkt meiner innerparteilichen Beliebtheit habe ich noch vier Prozent Gegner gehabt. Wenn du 95 Prozent hast, bist du sowieso ein Star.

Bürgermeister Michael Häupl will auch in der Pension kein "Balkonmuppet" sein. Tipps will er seinem Nachfolger Michael Ludwig nur geben, wenn dieser danach fragt.
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STANDARD: Haben Sie Tipps für Ludwig?

Häupl: Ich spiele keinen Balkonmuppet. Wenn er etwas von mir wissen will, stehe ich zur Verfügung. Im Gegensatz zu dem Unsinn, der verbreitet wird, haben wir kein Problem miteinander.

STANDARD: Nach 25 Jahren als Wiener SPÖ-Chef und Bürgermeister der Stadt Wien: Was bleibt von der Ära Häupl?

Häupl: Wie sagen die Zyniker? Die Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Ich habe es immerhin geschafft, 30 Jahre in der Stadtregierung psychisch einigermaßen gut zu überstehen. Ich bin fünf Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Bürgermeister geworden. Wien ist wieder in den Mittelpunkt Europas gerückt. Der Beitritt Österreichs zur EU war eine irrsinnige Chance für die Stadt, die wir am Anfang vielleicht zu schnell angegangen sind und darum den Platscher mit der Wahlniederlage von 1996 hatten. Wir haben Himmel und Hölle in einem gehabt. Es war eine doppelte Herausforderung: den Niedergang der Sozialdemokratie in dieser Stadt zu verhindern und die Rolle der europäischen Integration anzunehmen. Wir haben beides geschafft. Die Anerkennung der Rolle der Städte in der Union war eine riesige Auseinandersetzung. Die nächste Challenge war die Wirtschafts- und Finanzkrise. Ab 2009 waren es jährlich eine Milliarde weniger Einnahmen für Wien.

STANDARD: Was war Ihr größter Erfolg?

Häupl: Wir haben einen Weg eingeschlagen, der Wien wieder zur Hauptstadt des Wissens gemacht hat. Das sage ich nicht als ehemaliger Naturwissenschafter, der leicht spleenig geworden ist, sondern wegen der Arbeitsplätze und des Wohlstands unserer Kinder und Enkelkinder.

STANDARD: Was war Ihr größter Fehler?

Häupl: Ich werde mich hüten, das zu beantworten. Ich mache nicht die Arbeit der Opposition. Wenn ich mir die Stadt anschaue, sehe ich, dass vieles sehr gut gegangen ist. Aber dass wir nicht alles gut gemacht haben, ist auch keine Frage. Das Durchschleusen der Flüchtlinge 2015 war nicht gewünscht. Aber dass – wenn sie schon da sind – wir ihnen was zu essen geben, eine Dusche und frisches Gewand zur Verfügung stellen, ist wohl das Mindeste. Das hat eine sehr schöne Seite von Wien gezeigt. Im Gegensatz dazu hat man Bilder aus Budapest gesehen, wo Leute Flüchtlinge am Bahnhof geprügelt haben. Da wird man schon sehr nachdenklich. Ich habe ein Bild aus dem Jahr 1956 noch vor mir vom Ungarn-Aufstand: Da zieht ein Burgenländer ein Kind durch den Zaun und hilft ihm, auf unsere Seite der Grenze zu kommen. Gleichzeitig gab es 2015 Bilder einer jungen ungarischen Journalistin, die ein Flüchtlingskind mit Fußtritten drangsaliert. Da denke ich mir schon: Wie man so schnell vergessen kann, das ist unglaublich. Diese zwei Bilder. Und 2015 bringen wir Familien unter, und dann steht die FPÖ da und demonstriert gegen eine Familie mit drei kleinen Kindern. Genauso sehe ich noch das Bild aus dem Burgenland mit den erstickten Flüchtlingen in dem Kastenwagen. Ehrlich gesagt: Manche Sachen verstehe ich nicht. So eine Gefühls- und Herzlosigkeit, das pack ich nicht. Damals zitierte ich Martin Luther: "Hier steh ich nun – ich kann nicht anders." Das ist aus tiefstem Herzen gekommen.

STANDARD: Wie soll Wien in zehn Jahren dastehen?

Häupl: Das Schul- und Bildungssystem muss ins 21. Jahrhundert wechseln. Hier gibt es noch Luft nach oben. Auch bei den Lehrinhalten haben wir noch eine ganze Menge zu tun.

2010 rief Bürgermeister Michael Häupl die erste rot-grüne Koalition auf Landesebene aus. Maria Vassilakou (Grüne) ist seither seine Stadt-Vize.
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STANDARD: Sie haben 2010 in Wien erstmals auf Landesebene eine rot-grüne Koalition ausgerufen. Die Besiegelung mit den Worten "Man bringe den Spritzwein" ist legendär. 2015 wurde der Pakt erneuert. Würden Sie Rot-Grün noch einmal machen?

Häupl: Jetzt rennen die Studenten mit dem Spruch am Leiberl durch die Uni, köstlich. Unter gegebenen Bedingungen würde ich es wieder machen. Es ist ja keine Liebesheirat, sondern ein Vertrag auf Zeit. Das ist eine Frage der politischen Mengenlehre. Es sind zwei Parteien, die ihre unterschiedlichen Standpunkte haben. Ich habe mit den Schwarzen und den Grünen regiert, das ist nicht eine Frage des Glaubens, sondern der politisch realistischen Möglichkeiten.

STANDARD: Ist Rot-Grün zukunftsfähig?

Häupl: Diese Frage muss ich Gott sei Dank nicht beantworten. Ich wünsche meinem Nachfolger die absolute Mehrheit oder zumindest jene komfortable Situation, wie sie Peter Kaiser in Kärnten hat. Dann muss er es eh selber wissen.

STANDARD: Sie haben Wahlen auch gewonnen, weil Sie Heinz-Christian Strache als Bürgermeister verhindern wollten. Soll Ludwig bei der Taktik bleiben?

Häupl: Das ist ja keine Taktik, um Himmels willen. Strache verhindern heißt, die FPÖ von Regierungsverantwortung fernzuhalten. Ob mir Herr Strache sympathisch ist, ist vollkommen wurscht für diese Stadt. Wenn die FPÖ Regierungsverantwortung in dieser Stadt auch noch übernehmen würde, wäre das nicht gut für die Entwicklung Wiens.

STANDARD: Kann Ihr Credo "Kein Rot-Blau in Wien" aufrechterhalten werden?

Häupl: Die Partei ist gut beraten, sich selbst ernst zu nehmen und sich an ihre einstimmigen Beschlüsse zu halten. Ich sehe momentan niemanden, der der Auffassung ist, man solle mit den Freiheitlichen koalieren. Diese Position ist nicht im entferntesten mehrheitsfähig.

Nach der Politik will Bürgermeister Michael Häupl in die Wissenschaft zurückwechseln.
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STANDARD: Was werden Sie in Ihrer Pension machen? Lektor an der geplanten Soros-Uni auf dem Otto-Wagner-Areal sein? Oder am Institut für Politikwissenschaft?

Häupl: In meinem Wissenschaftsbereich Biologie kann man mich nach 35 Jahren nicht mehr brauchen. Das wäre lächerlich. In anderen Bereichen? Schauen wir mal. Wenn, dann fangen wir mit einem Universitätsvortrag über Wissenschaftsorganisation oder -finanzierung an – als Test. Die Eitelkeit, auf der Politikwissenschaft eine Vorlesung zu halten, überlasse ich anderen. (Oona Kroisleitner, David Krutzler, 28.4.2018)