Wien – Was Joe antreibt, weiß man nicht. Dafür sieht man umso häufiger, wie ihn etwas antreibt. Mitunter sieht man auch Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit. Aus der Kindheit, aus einer Zeit, die er möglicherweise bei der Polizei zugebracht hat, und im Irakkrieg war Joe offensichtlich auch. Vom Vater wurde er geprügelt. Für ein Psychogramm dieses massigen Mannes taugen diese Bilder allerdings nicht. Denn Joe ist, auch wenn A Beautiful Day alles unternimmt, um ihn nicht als solchen zu zeichnen, ein typischer Kinoheld.

Mitten in New York am Rande der Gesellschaft: Joe (Joaquin Phoenix) belässt es als Berufskiller nicht nur bei der Beobachtung von Kinderschändern.
Foto: Constantin

In der Gegenwart ist Joe unterwegs, um entführte oder manchmal auch nur untergetauchte Menschen aufzuspüren. Außerdem jagt er Kinderschänder. Sein aktueller Fall ist der eines verschwundenen Mädchens: Die Tochter eines Senators wurde verschleppt, Joe soll sie zurückholen. Wie bleibt ihm überlassen. Man weiß, dass er alles versuchen wird, aber wie er es versuchen wird, das will man sehen.

Straßen des Abschaums

Die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay, die sich mit Arbeiten wie dem Coming-of-Age-Drama Ratcatcher und We Need to Talk About Kevin mit Tilda Swinton einen Namen gemacht hat, ist ohne Zweifel eine exzellente Kennerin des US-amerikanischen Genrekinos. Wer sich A Beautiful Day ansieht, wird es eher nicht sein. Aber man wird mit Joe auf den ersten Blick eine Figur weniger neu entdecken als wiedersehen. Denn Ramsay greift auf eine der populärsten Figuren zurück, die die US-Literatur und das Kino für das Genre entwickelt haben: jene des einsamen Rächers, zu dem man über die Jahrzehnte und über unzählige Filme hinweg eine Hassliebe entwickeln konnte.

So ist es auch kein Zufall, dass Ramsays Gewaltthriller seit seiner Premiere vergangenes Jahr beim Festival von Cannes mit Martin Scorseses Klassiker Taxi Driver mit Robert De Niro verglichen wird. Das ist jener furiose Film über den vereinsamten Wolf Travis Bickle, der die Straßen New Yorks vom "Abschaum" zu säubern gedenkt und einen kanonischen Monolog vor dem Spiegel hält.

Deutscher Trailer zu "A Beautiful Day".
Constantin Film

Das würde Joe niemals tun. Denn Joe denkt niemals an die anderen, im Grunde sind ihm Stadt und Menschen gleichgültig. Er ist ein Mann, der nur an sich denkt und gelegentlich an seine Mutter (Judith Roberts), die da draußen am Stadtrand wohnt. Jede Form der Selbstinszenierung ist ihm ein noch größeres Gräuel als die Gesichter derjenigen, die er jagt.

Die Geschichte vom Verbrecher, dessen Verbrechen weniger verbrecherisch sind als die der anderen, ist so alt wie das Kino selbst. Verbrecher wie Joe decken nämlich hundertmal schlimmere Verbrechen auf – und ahnden sie. Und selbstverständlich sind es fast ausschließlich Männer, die zum Rächer im Kino werden. Auch Joe, gespielt vom 43-jährigen Joaquin Phoenix, der hier um mindestens 15 Jahre älter und also interessanter aussieht, wird zu einem solchen. In A Beautiful Day trägt Phoenix einen besonders männlichen langen, grauen Bart.

Gewaltvolles Überlebenswerk

A Beautiful Day heißt im Original You Were Never Really Here und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jonathan Ames. Tatsächlich hat man jedoch den Eindruck, dass dieser Mann eigentlich immer schon da war: angelegt in den frühen Hard-Boiled-Krimis der 40er- und 50er-Jahre, die den hartgesottenen Ermittler im Dschungel der Großstadt die Kontrolle über sich verlieren ließen; in den Romanen von James Ellroy und im Neo-Noir der 80er-Jahre; im konkreten Fall aber besonders in den Erzählungen des New Yorkers Andrew Vachss, der in seinen Romanen gegen die "Freaks" und "Kinderschänder" zu Felde zieht, dessen Protagonisten New York als einzige "große Schleimgrube" sehen und der den Kampf gegen die Päderastie zu seinem Überlebenswerk erklärt.

Englischer Originaltrailer.
Amazon Studios

Lynne Ramsay will all das erfahrbar machen, ganz körperlich beim Zuschauen. Sie verzichtet auf die explizite Darstellung von Gewalt, lässt sie aber dennoch stets unmittelbar und heftig aus Joe herausbrechen. Wenn dieser Mann in einen Plastiksack atmet, dann wie zur Selbstberuhigung und um sich in Trace zu versetzen. Es ist ein präziser Rhythmus, der auch diesen Film bestimmt.

Nicht zuletzt deshalb ist A Beautiful Day in erster Linie durch die physische Präsenz Joaquin Phoenix' geprägt, dessen Körper die Kamera (Thomas Townend) wie ein zerstörtes Kunstwerk abtastet. Seine ganze Vergangenheit hat sich in diesen Körper eingeschrieben, vor allem in seine Narben. Doch dann sitzt dieser Mann mit seiner schäbigen Kleidung plötzlich wieder in einer Luxuslimousine, die ihn zum Tatort bringen wird. Nicht als Ermittler, sondern als professionellen Kinokiller. (Michael Pekler, 27.4.2018)