Meşale Tolu nach ihrer Freilassung im Dezember 2017. Sie darf die Türkei weiter nicht verlassen, im Oktober steht sie wieder vor Gericht.

Foto: APA/AFP/YASIN AKGUL

Zehn Minuten nur dauerte die Urteilsverkündung, zwei Stockwerke tief in einem fensterlosen, unterkühlten Sitzungssaal in Silivri, dem größten Gefängnis der Türkei. "Ihre Aufgabe ist schwer", sagte Kadri Gürsel, einer der angeklagten Journalisten, dem Richter ins Gesicht, "denn Sie müssen ohne Beweise entscheiden. Das heißt, Sie müssen gemäß Ihrem Verstand und Ihrem Bewusstsein entscheiden."

So geschah es dann wohl auch am Mittwochabend in einem Schlüsselprozess gegen türkische Journalisten seit der Verhängung des Ausnahmezustands im Land vor bald zwei Jahren. Nach Auffassung westlicher und türkischer Prozessbeobachter ohne jeden Beweis, aber politisch motiviert verurteilte der Vorsitzende Richter des Strafgerichts, Abdurrahman Orku Dağ, 14 Journalisten und Manager von "Cumhuriyet", der ältesten Tageszeitung der Türkei, zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und mehr als acht Jahren; drei Mitarbeiter sprach er frei. "Nicht eine Spur Gerechtigkeit im 'Cumhuriyet'-Urteil", twitterte Kati Piri, die Türkei-Berichterstatterin im Europaparlament, am Donnerstag.

Journalisten sollen Terrororganisationen geholfen haben

Die verurteilten Journalisten sollen die Zeitung benutzt haben, um gleich drei verschiedenen Terrororganisationen durch die Verbreitung von Propaganda zu helfen: der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der linksextremen Gruppe DHKP-C und der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen – einem ehemaligen langjährigen Verbündeten der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP. Der Kolumnist Gürsel erhielt dafür zweieinhalb Jahre Haft, der Investigativjournalist Ahmet Şik siebeneinhalb und Herausgeber Akin Atalay, der bis zuletzt – 543 Tage lang – in Untersuchungshaft gehalten wurde, acht Jahre, einen Monat und 15 Tage. Auch der renommierte Karikaturist der Zeitung, Musa Kart, muss für seine Zeichnungen drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis.

Die Urteile sind nicht rechtskräftig. Die Journalisten bleiben zunächst auf freiem Fuß, bis ein Berufungsgericht sein Urteil fällt; sie haben aber ein Ausreiseverbot.

Die türkische Regierung war im Oktober 2016 gegen die Redaktion von "Cumhuriyet" vorgegangen und hatte Chefredakteur Murat Sabuncu und seine Mitarbeiter in Untersuchungshaft nehmen lassen. Der Prozess begann im Juli 2017.

Mindestens 36 Jahre Haft

Als Nächstes steht die Verurteilung von Kolumnisten der eingestellten, einst auflagenstärksten Tageszeitung "Zaman" an. Sie galt als Sprachrohr der Gülen-Bewegung. Ihnen drohen lebenslange Freiheitsstrafen unter erschwerten Auflagen. Drei renommierte Journalisten sind im Februar bereits zu dieser Höchststrafe verurteilt worden: die Kolumnistin Nazlı Ilıcak, der Schriftsteller und ehemalige Chefredakteur der eingestellten Tageszeitung "Taraf", Ahmet Altan, und dessen Bruder, der TV-Moderator und Kolumnist Mehmet Altan. Die Mindestdauer der Haft ist unter diesen Bedingungen 36 Jahre.

Der Prozess gegen die deutsche Journalistin Meşale Tolu fand am Donnerstag vor einem Gericht in Istanbul eine kurze Fortsetzung. Tolus Antrag auf Aufhebung der Ausreisesperre aus der Türkei lehnte der Richter ab. Die 33-Jährige muss sich aber zumindest nicht mehr wöchentlich bei der Polizei melden. Tolu arbeitete für die linksstehende Nachrichtenagentur ETHA (Etkin Haber Ajansı). Sie war kurz vor dem 1. Mai 2017 in Istanbul festgenommen und dabei von ihrem zweijährigen Sohn getrennt worden. Der Fall verschlechterte die deutsch-türkischen Beziehungen noch weiter. Nach siebeneinhalb Monaten Untersuchungshaft wurde sie im Dezember 2017 freigelassen. Ihr Ehemann Suat Çorlu ist ebenfalls wegen Terrorvorwürfen angeklagt. Erst diesen Monat nahm die türkische Polizei erneut einen deutschen Journalisten fest, den Kölner Ali Demirci. Er arbeitet ebenfalls für die ETHA.

Auch Amnesty-Chef weiter in Untersuchungshaft

Amnesty International in der Türkei hat in einem am Donnerstag vorgelegten Bericht schwere Vorwürfe gegen die politische Führung im Land erhoben. Unter dem Titel "Den Sturm überstehen. Die Verteidigung von Menschenrechten in einem Klima der Furcht in der Türkei" zog die Organisation eine Bilanz des seit Juli 2016 geltenden Ausnahmezustands. Die Regierung nutze die Vollmachten des Ausnahmezustands, um Vertreter der Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, stellt Amnesty fest. Die Organisation verweist dabei neben anderen auf den Fall des türkischen Philantropen Osman Kavala. Er wird seit Oktober 2017 in Untersuchungshaft gehalten, mittlerweile ist seine Isolation etwas gelockert worden. Eine Anklageschrift gibt es nicht. Kavala soll in der Haft zu angeblichen Verbindungen zu Organisatoren des Putsches vom 15. Juli 2016 und der Demonstrationen im Gezi-Park in Istanbul im Mai 2013 befragt worden sein.

Der Chef von Amnesty International in der Türkei, Taner Kılıç, ist selbst seit Juni 2017 in Untersuchungshaft. Begründet worden war die Verhängung des Ausnahmezustands mit der Verfolgung der Putschisten. Mittlerweile sind mehr als 50.000 Menschen in Haft genommen worden. (Markus Bernath, 26.4.2018)